Die geschichtliche Behandlung von Fachfragen bildet in fast
allen Disciplinen einen naturgemässen und integrirenden Bestand
teil der Wissenschaft. Eine Theologie ohne Kirchen- und
Dogmengeschichte, eine Jurisprudenz ohne Rechtsgeschichte ver
mögen wir uns nicht zu denken; die Philosophie räumt der
Charakterisirung längst vergangener Lehrmeinungen eine ehren
volle Stelle in ihrem Systeme ein, und selbst die in unseren
Tagen so hoch ausgebildete militärische Wissenschaft gibt dem
lebendigen Studium der Kriegsgeschichte den Vorzug vor den
systematischen Disciplinen der Taktik und Strategie. Anders
in den Naturwissenschaften, denen wir nach altem und gewiss
auch berechtigten Usus doch auch die Mathematik beizählen
dürfen.
Nicht immer war es so. Dem Beobachter, der aufmerksamen
Blickes die Entwickelung des gewaltigen Complexes von Dis
ciplinen verfolgt hat, welche man heutzutage mit dem Gesammt-
namen der scientia naturalis zu bezeichnen pflogt, muss sich fast
die unerfreuliche Ueberzeugung aufdrängen, dass mit dem An
wachsen des Materials und mit der Ausbildung der Methoden
die Abnahme des historischen Sinnes ziemlich gleichen Schritt
hielt. Wollen wir ein drastisches Exempel vor Augen haben,
so brauchen wir nur aus dem vorigen Jahrhundert die Periode
herauszugreifen, welcher Alb recht v. Haller den Stempel
seines allumfassenden Geistes aufgedrückt hat. Damals, diess
mögen wir dreist behaupten, gab es keinen Botaniker, der nicht Note h
seinen Plinius und Dioscorides, keinen Mediciner, der nicht seinen
Hippocrates, keinen Mathematiker, der nicht seinen Euclid von
innen und aussen kannte. Und doch waren damals die Hülfs-
mittel einer rationell-historischen Forschung noch äusserst dürf
tige, noch konnte der Beistand, welchen die Alterthumswissen-
Ctünther, Ziele u. Resultate der znath.-histor. Forschung. X