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Sesostris habe dem Lande zuerst eine einheitliche Agrarver
fassunggegeben, welche — im Geiste einer sehr fortgeschrittenen
Socialpolitik —■ jedem Bürger ein bestimmtes quadratisches
Flächenstück zur Cultivirung zuwies. Dann fährt er (nach B re t-
schneider’s D Uebertragung) folgen dermassen fort: „Wem
aber der Fluss etwas von seinem Theile fortriss, der musste zu
ihm kommen und das Geschehene anzeigen; er schickte dann die
Aufseher, die auszumessen hatten, um wie viel das Landstück
kleiner geworden war, damit der Inhaber von dem fiebrigen
nach Verhältnis der aufgelegten Abgabe steure. Hieraus scheint
mir die Geometrie entstanden zu sein, die von da nach Hellas
kam.“
Noch bestimmter sprechen sich Heron, Diodor und
Strabo (XVII, 787) aus; die Worte des grossen Geographen,
welcher unter den Alten bekanntlich durch einen relativ sehr
klaren und unbefangenen Blick sich auszeichnete, werden von
Br et Schneider -) so wiedergegeben: „Es bedurfte einer sorg
fältigen und bis auf das Genaueste gehenden Eintheilung wegen
der beständigen Verwischung der Grenzen, die der Nil bei seinen
Ueberschwemmungen veranlasst, indem er Land wegnimmt und
zusetzt und die Gestalt verändert und die anderen Zeichen un
kenntlich macht, wodurch das fremde und eigene Besitzthum
unterschieden wird. Man muss daher immer und immer wieder
messen. Hieraus soll die Geometrie entstanden sein.“
Natürlich giengen die Griechen zu weit, wenn sie die Ent
stehung einer wissenschaftlichen Geometrie lediglich als Con-
sequenz solcher Elementar-Ereignisse sich dachten, denn wenn
das ägyptische Volk nicht bereits von der Natur in dieser Hin
sicht günstig disponirt gewesen wäre, so hätten auch aller Wahr
scheinlichkeit nach Ueberschwemmungen und Besitzstörungen
von Seite des Flusses ebensowenig die Beschäftigung mit Ma
thematik ihm aufgezwungen als anderen Völkerschaften. Auf
der anderen Seite kann man aber auch das Verfahren eini
ger neuerer Historiker nicht billigen, welche im Anschluss an
das bereits von Montucla gegebene Beispiel 3 ) die hellenischen
Berichte als vage Erzählungen behandeln und einen Rückschluss
von ihnen auf ägyptische Geometrie nicht gestatten wollen. Hie-
her gehört Fricdlcin, welcher die praktische Vermessungs
kunde der Aegypter mit derjenigen der ältesten Römer oder gar des