19
abgesehen von der Menge Materiales, dessen wir nicht einmal
andeutungsweise Erwähnung thun konnten, gewinnt derselbe da
durch einen ungemeinen Werth, dass wir die in ihm niederge-
logten Yerfahrungsweisen überhaupt als das direkte Original für
gar viele spätere Leistungen betrachten dürfen. Zum besseren
Verständnisse dieser Behauptung sehen wir uns genöthigt, eine
kleine Abschweifung zu machen. Durch die ägyptische Wissen
schaft zieht sich ganz ebenso wie durch die anderer Nationen
ein eigenthümlicher Gegensatz zwischen exoterischem und solchem
Wissen, das nur den Eingeweihten zugänglich war; gewiss moch
ten die in den Tempelschulen herangebildeten Priester, die so
genannten Harpedonapten, gar Vieles erforscht haben, was sie
dem vulgus profanum nicht herauszugeben für erforderlich hiel
ten. Und diesen Charakterzug ihrer angesehenen wenn auch
freilich nicht immer gutwilligen Lehrer bildeten die Hellenen in
ihrem eigenen Wesen treulich nach. Die Euclides, Ar chi- Note 23.
medes, Apollonius hätten es gewaltig unter ihrer Würde
gefunden, aus ihren abstrakten Studien Folgerungen für die Be
dürfnisse der praktischen Geodäsie zu abstrahiren — der einzige
Hero in der klassischen Periode altgriechischer Mathematik hat
sich hiezu herbeigelassen. Während die theoretischen Forscher
in die tiefsten Geheimnisse der Curvenlehre eindrangen, arbeite
ten die Feldmesser nach primitiven Vorschriften, von denen man
sich ehedem nicht genug wundern konnte, sie gerade auf grie
chischem Boden entstanden zu sehen. Nunmehr ist dies Räthsel Note 24.
gelöst; die bei den ägyptischen Katastervermessungen hinlänglich
bewährt erfundenen rechnerischen und construktiven Handgriffe
überschritten das Mittelmeer, und so dienten denn die gleichen
Methoden, mittelst deren im dritten Jahrtausend v. Chr. Geburt
die Regulirung der Nil-Alluvionen vorgenommen wurde, bei den
gewaltigen militärischen Mappirungcn der römischen Cäsaren,
über die wir durch des berühmten Philologen Ritschl Forsch
ungen genau unterrichtet sind. Aber damit nicht genug —
nach der nämlichen ungenauen Formel, womit die am häufigsten
vorkommende Figur des irregulären Vierecks ausgerechnet.wurde,
lehrt auch Alcuin die Zöglinge der durch Karl den Grossen
in’s Leben gerufenen Hofschulen die gleiche Aufgabe lösen, und
noch im 16. Jahrhundert, in der „Geometrey“ des Frankfurter *
Rechenmeisters Jacob Köbel, taucht ganz dieselbe wiederum
2*