Full text: Ziele und Resultate der neueren mathematisch-historischen Forschung

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abgesehen von der Menge Materiales, dessen wir nicht einmal 
andeutungsweise Erwähnung thun konnten, gewinnt derselbe da 
durch einen ungemeinen Werth, dass wir die in ihm niederge- 
logten Yerfahrungsweisen überhaupt als das direkte Original für 
gar viele spätere Leistungen betrachten dürfen. Zum besseren 
Verständnisse dieser Behauptung sehen wir uns genöthigt, eine 
kleine Abschweifung zu machen. Durch die ägyptische Wissen 
schaft zieht sich ganz ebenso wie durch die anderer Nationen 
ein eigenthümlicher Gegensatz zwischen exoterischem und solchem 
Wissen, das nur den Eingeweihten zugänglich war; gewiss moch 
ten die in den Tempelschulen herangebildeten Priester, die so 
genannten Harpedonapten, gar Vieles erforscht haben, was sie 
dem vulgus profanum nicht herauszugeben für erforderlich hiel 
ten. Und diesen Charakterzug ihrer angesehenen wenn auch 
freilich nicht immer gutwilligen Lehrer bildeten die Hellenen in 
ihrem eigenen Wesen treulich nach. Die Euclides, Ar chi- Note 23. 
medes, Apollonius hätten es gewaltig unter ihrer Würde 
gefunden, aus ihren abstrakten Studien Folgerungen für die Be 
dürfnisse der praktischen Geodäsie zu abstrahiren — der einzige 
Hero in der klassischen Periode altgriechischer Mathematik hat 
sich hiezu herbeigelassen. Während die theoretischen Forscher 
in die tiefsten Geheimnisse der Curvenlehre eindrangen, arbeite 
ten die Feldmesser nach primitiven Vorschriften, von denen man 
sich ehedem nicht genug wundern konnte, sie gerade auf grie 
chischem Boden entstanden zu sehen. Nunmehr ist dies Räthsel Note 24. 
gelöst; die bei den ägyptischen Katastervermessungen hinlänglich 
bewährt erfundenen rechnerischen und construktiven Handgriffe 
überschritten das Mittelmeer, und so dienten denn die gleichen 
Methoden, mittelst deren im dritten Jahrtausend v. Chr. Geburt 
die Regulirung der Nil-Alluvionen vorgenommen wurde, bei den 
gewaltigen militärischen Mappirungcn der römischen Cäsaren, 
über die wir durch des berühmten Philologen Ritschl Forsch 
ungen genau unterrichtet sind. Aber damit nicht genug — 
nach der nämlichen ungenauen Formel, womit die am häufigsten 
vorkommende Figur des irregulären Vierecks ausgerechnet.wurde, 
lehrt auch Alcuin die Zöglinge der durch Karl den Grossen 
in’s Leben gerufenen Hofschulen die gleiche Aufgabe lösen, und 
noch im 16. Jahrhundert, in der „Geometrey“ des Frankfurter * 
Rechenmeisters Jacob Köbel, taucht ganz dieselbe wiederum 
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