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Erster Abschnitt. § 26.
Ebene) von einer dritten Geraden geschnitten werden und die
Summe der beiden innern, an derselben Seite gelegenen Winkel
zwei Rechte beträgt, so können sie sich nicht schneiden, wie
weit man sie auch verlängern mag. Indessen war es ihm nicht
möglich, für die Umkehrung dieses Satzes einen Beweis zu finden.
Da er aber die Umkehrung für sein System nicht entbehren
konnte, setzte er sie als fünftes Postulat in den Anfang des Werkes.
Dadurch erkannte er offen an, dafs hier eine für ihn unlösliche
Schwierigkeit vorhanden war, und indem kein Versuch gemacht
wurde, sie zu verschleiern, wurde sie dem Leser leicht erkennbar.
Es fehlte daher auch nicht an Versuchen, ein genügendes Fun
dament für die Theorie zu schaffen; gar mancher glaubte, es sei
ihm gelungen, die Lücke auszufüllen; auch fanden einzelne Ver
suche einen gröfseren oder kleineren Kreis von Anhängern; aber
kein einziger konnte sich allgemeiner Zustimmung erfreuen. Schon
dieser Umstand macht es sehr wahrscheinlich, dafs ein genügendes
Fundament nicht möglich ist. Denn wir befinden uns hier aut
einem durchaus elementaren Gebiet; wenn da ein genügender
Beweis erbracht werden könnte, so müfste er gewifs in den zwei
tausend Jahren, während welcher die Gelehrten sich um seine
Auffindung bemüht haben, geliefert worden sein. Desungeachtet
haben wir die bekanntesten Versuche (§§ 2—5) genauer geprüft
und für alle die Fehlerquelle nachgewiesen.
Dadurch werden wir mit zwingender Notwendigkeit auf die
Vermutung geführt, es sei vielleicht gar nicht möglich, das fünfte
Postulat Euklids aus seinen übrigen Voraussetzungen herzuleiten.
Um hierüber ins reine zu kommen, ersetzen wir die Begriffe der
Geometrie durch andere Begriffe, für welche ebenfalls alle übrigen
/ von Euklid gemachten Voraussetzungen gelten, und wir fragen
uns, ob es möglich ist, die neuen Begriffe derartig zu wählen,
dafs für sie das fünfte Postulat nicht mehr gültig ist. Das gelingt
in mehrfacher Weise.
Einmal (§ 6) ersetzen wir die Ebene durch gewisse Flächen,
welche nach dem Vorgänge von Gaufs als solche von konstanter
negativer Krümmung bezeichnet werden. Die Geraden der Ebene
finden ihr Analogon in den kürzesten Linien der Fläche, und die
Kreise in gewissen geschlossenen Kurven. Bei dieser Übertragung
können wir zu allen ebenen Gebilden ein Analogon aufstellen;