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Erster Abschnitt. § 26.
möglich, das fünfte Postulat aus den übrigen Voraussetzungen
der Geometrie herzuleiten (§ 7).
Nun kann man noch die Frage stellen, ob die Parallelen
theorie wenigstens durch die Erfahrung gefordert wird. Auch
diese Frage mufste in § 8 wenigstens vorläufig verneint werden.
Gewifs pafst Euklids System ganz vorzüglich zu unserer Erfahrung;
aber da wir unsere Zeichnungen statt mit Linien stets mit Körpern
ausführen, da alle unsere Messungen mit Fehlern behaftet sind,
können wir die Parallelen - Theorie höchstens als sehr wahr
scheinlich, aber nicht als unbedingt gewifs hinstellen.
Wir schlagen daher jetzt (§§ 9—13) den umgekehrten Weg
ein. Wir machen die Annahme, das Parallel - Axiom sei falsch,
und untersuchen, ob wir zu einem innern Widerspruch geführt
werden. Das ist nicht der Fall, vielmehr ergiebt sich eine voll
ständig in sich abgeschlossene Theorie über die gegenseitige Lage
von Geraden in einer Ebene und von Geraden und Ebenen des
Raumes. Auch die einfachsten krummen Gebilde (§ 14) folgen
Gesetzen, wie sie bereits bei der Kugelfläche vorgezeichnet sind.
Schon hiermit ist die innere Berechtigung einer Geometrie er
wiesen, welche sich in Gegensatz stellt zu Euklids Voraussetzung
über die Parallelen. Denn alle weiteren Beziehungen der Raum
gebilde sind nur weitere Fortbildungen der für die Ebenen und
Geraden geltenden Gesetze, können also zu keinem Widerspruch
führen, wenn ein solcher nicht bereits in den früheren Sätzen
hervortritt.
Für die Beziehungen zwischen den Seiten und Winkeln eines
Dreiecks können Formeln (§ 15) aufgestellt werden, welche mit
der hier verfolgten Voraussetzung in Einklang stehen, welche ge
statten, aus drei Bestimmungsgröfsen die übrigen zu berechnen,
und welche in allen Fällen, wo durch Konstruktion eine geo
metrische Lösung möglich ist, auch zu reellen Resultaten führen.
Endlich giebt es analytische Formeln (§ 16), welche einerseits
mit dem Parallel-Axiom unvereinbar sind, andererseits aber allen
weiteren Voraussetzungen Euklids genügen. Mit solchen Formeln
ist aber implicite die ganze Geometrie gegeben; denn nachdem
die Grundformeln aufgestellt sind, gründen sich alle geometrischen
Sätze auf analytische Umformungen. Wenn die Grundlagen der
Rechnung den geometrischen Anschauungen genügen, so können