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Erster Abschnitt. § 2.
Sobald man die Möglichkeit einer einzigen solchen Linie
voraussetzt, kann man nachweisen, dafs es noch beliebig viele
andere Linien mit derselben Eigenschaft giebt. Hierbei ist ferner
zu bemerken, was allerdings an dieser Stelle nicht bewiesen werden
soll, dafs es genügt, die Voraussetzung für einen beliebig kleinen
Winkel zu machen. Zeichnet man aber in eine Zeichenebene,
wie sie uns zu Gebote steht, einen Winkel und entfernt sich im
Winkelfelde recht weit vom Scheitel, so wird man stets nicht
nur eine, sondern beliebig viele gerade Linien ziehen können,
von denen beide Schenkel getroffen werden. Aber für unsere
Zeichnungen stehen uns immer nur gar zu kleine Flächen zur
Verfügung; wollten wir den Punkt in der Entfernung von Mil
lionen Meilen vom Scheitel annehmen, so könnten wir es keines
wegs als unbedingt sicher annehmen, dafs der Satz noch richtig
ist. Demnach kann dieser Satz nicht einmal als durch die Er
fahrung bewiesen angesehen werden.
Es ist überhaupt ein Mangel der in diesem Paragraphen an
gegebenen Versuche, denen sich noch manche ähnliche anreihen
liefsen, dafs uns keine Erfahrung über ihre unbedingte Richtigkeit
Aufschlufs giebt. Andererseits eignen sie sich alle auch ihrer äufsern
Form nach nicht zu Grundsätzen; sie bezeichnen also jedenfalls
keinen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem von Euklid ein
geschlagenen Verfahren.
Scheinbar fehlerlos ist folgende Voraussetzung;
Eine Gröfse kann nicht ganz in einer kleineren Grölse ent
halten sein.
Wenn wir diesen Satz ganz allgemein als richtig annehmen,
so läfst sich leicht zeigen, dafs durch jeden Punkt nur eine ein
zige Parallele zu einer gegebenen Geraden gezogen werden kann.
Angenommen nämlich, durch den Punkt P gingen zwei verschie
dene Gerade, welche eine in derselben Ebene liegende Gerade AB
nicht schnitten, so liefsen sich auf den durch P gezogenen Ge
raden zwei Richtungen PM und PN so bestimmen, dafs für einen
auf AB gewählten Punkt C der gestreckte Winkel AGB inner
halb des Winkels MPN fiele, der kleiner ist als zwei Rechte.
Aber auch diese Behandlung ist fehlerhaft. Der Satz gilt
ohne jeden Zweifel für allseitig begrenzte Gröfsen; aber man darf
ihn keineswegs von vorn herein auf unendliche Gröfsen über-