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Vierter Abschnitt. Substitutionsmethoden. V.
Freude, Ferrari’s Entdeckung in seiner Ars magna 1545 veröffent
lichen zu können. Aber die Nachwelt, ein ungerechter Richter, be
nannte diese Auflösung nach Bombelli*), der an sie genau ebenso
wenig Anrecht besitzt, als Cardano an die sogenannte Cardani'sche
Formel. — — — Dies ist das Verfahren, durch welches Vieta hei
seinen Zeitgenossen sich den höchsten Ruhm erwarb, welches von aus
gezeichneten Analytikern, Harriot, Oughtred u. A. ausführlich be
handelt wurde, heute aber — als wenn die Nachwelt immer Unrecht
üben wollte — das Newton’sche Approximationsverfahren genannt wird.“
Freilich ist es die Aufgabe des Historikers, das schuldig oder unschuldig
begangene Unrecht vor den Richterstuhl der Geschichte zu rufen und
nach bestem Wissen und Willen ein gerechtes Urtheil zu fällen. Aber
auch dieser Richter kann irren, er begeht hier seihst ein Unrecht,
denn die Appi'oximationsmethode von Newton ist nicht Eigenthum
des Vieta, sondern des Chinesen Tsin Kiu Tschau (j* um 1300).
Auch nach dem räthselhaften Lande der Mitte haben wir unser Augen
merk in der Geschichte der arithmetischen Wissenschaften zu richten;
und leider auch diesem lässt der geniale Historiker nicht immer Ge
rechtigkeit wiederfahren. Er sagt S. 407 seiner Geschichte der Mathe
matik im Alterthum und Mittelalter (Leipzig 1874): — — „Wenn es
eines Beweises bedürfte, dass zwischen indischer und chinesischer
Mathematik der engste Zusammenhang besteht, so ist es die Regel
Tä-jän, die schon im 3. Jahrh. im Suän-King des Sun-tsö vorkommt.
— — Diese Regel Tä-jän ist aber nichts anderes, als die indische
Kuttuka, — —“. Hankel hat dasselbe Unglück, wie der ungerechte
Richter „Nachwelt“. Offenbar hat Hankel die Tä-jän Regel gar nicht
gekannt, sonst wäre das Kapitel über Mathematik der Chinesen wo!
weniger dürftig ausgefallen**).
Seit den letzten 25 Jahren ist die höhere Algebra in eine neue
Phase eingetreten durch die Neugestaltung, welche sie unter den Hän
den von Cayley, Sylvester, Salmon, Brioschi, Hermite, Aronliold,
Hesse, Clebsch und Gordan erfahren hat. Ohne die Kenntniss der bei
der Untersuchung der binären algebraischen Formen in Betracht kommen
den Formensysteme, der Invarianten und der Covarianten, ist kein
tieferes Eindringen in die Theorie der Gleichungen bis zu dem gegen
wärtigen Standpuncte dieser Disciplin mehr möglich.
*) Dies ist, soviel bekannt, nur von Euler geschehen.
**) Die Regel Tä-jän hat, wie ich nachgewiesen habe, durchaus nichts
gemein mit der Kettenbruchmethode (Kuttuka) des Aryabatthiya, sondern ist
identisch mit der Congruenzmethode von Gauss. Vergl. Vorlesungen über
Zahlen theorie von Dirichlet, herausgegeben von Dedekind. § 25, und
Gauss, Diquisitiones arithmeticae. §. 32—36; ferner:
Matthiessen, Zur Algebra der Chinesen, Ztschft. f. Math, und Phys.
XIX. S. 270. 1874.
Vergleichung der indischen Cuttuca- und der chinesischen Tayen-
Regel, unbestimmte Gleichungen und Congruenzen ersten Grades aufzulösen.
Sitzungsberichte der math. - naturwiss. Section in den Verhandlungen der
Philol.-Vers. in Rostock 1875.