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Siebenter Abschnitt. Geometrische Methoden. I.
algebraischen Auflösung kubischer und biquadratiseher Gleichungen.
Die allgemeinere Methode einer algebraischen Auflösung wurde indess,
wie wir in den früheren Abschnitten entwickelt haben, von den älteren
Italienern, welche unter dem geistigen Einflüsse der arabischen Litte-
ratur standen, auch nur auf synthetisch-geometrischem Wege gefunden.
Beispiele geometrischer Constructionen der Wurzeln einer Gleichung
ersten Grades kommen zwar nirgend in der Litteratur der Alten vor.
Es ist aber mehr als wahrscheinlich, dass eine solche bei den arabischen
Algebristen vor Ibn Albanna, einem Zeitgenossen des Fibonacci,
erfunden und gebraucht worden ist, welche aber bald einem arith
metischen Schematismus Platz machte, der unter dem Namen der
„Regel der Wagschalen“ bekannt geworden ist. Was die geometrische
Construction der quadratischen Gleichungen anbelangt, so sind die
Principien derselben, so weit es sich um die Bestimmung der Glieder
rein geometrischer Ausdrücke zweiten Grades, also z. B. um die geo
metrische Construction der Seite eines Rechtecks von gegebener Summe
oder Differenz seiner Seiten und von gegebenem Inhalte handelt, aller
dings schon im VI. Buche der Elemente des Euclides implicite ent
halten. Wenn man aber den Ursprung der Algebra von dem wich
tigen Schritte datiren will, wo solche Abhängigkeitsverhältnisse oder
Gleichungen zwischen gegebenen und noch zu bestimmenden Grössen
arithmetisch aufgefasst und zergliedert, wo die geometrische Ausdrucks
weise der Theoreme beseitigt und gewissermassen in Formeln ver
wandelt, oder die Verbindung der Grössen im allgemeinen arithmetischen
Gewände, also der Inhalt eines Rechtecks in Form eines Zahlenproducts
vorgelegt worden sind, wie dies in der ausgeprägtesten Gestalt zuerst
in der griechischen Litteratur bei Diophant, in der indischen bei
Bralimegupta, in der arabischen bei Mohammed ben Musa zu
Tage tritt, dann finden wir die geometrische Construction und Bestimmung
der Wurzeln quadratischer Gleichungen zuerst in der Algebra von Omar
Alkhayyami. Dieser scharfsinnige Mathematiker entwickelt in gründ
lichster Weise die Theorie der quadratischen Gleichungen, indem er
dieselben zuerst algebraisch löst, dann diese Auflösungsmethode geo
metrisch interpretirt und endlich auch eine geometrische Construction
der Wurzel angibt, wobei er sich gerade auf die von Euclid in dem
VI. Buche der Elemente angewendete Construction der entsprechenden
planimetrischen Aufgabe bezieht und dieselbe mit. einigen Abbreviaturen
wiedergibt. Sonst habe ich wenigstens in der älteren Litteratur nir
gend eine geometrische Construction der Wurzeln der quadratischen
Gleichungen entdecken können. Denn die geometrischen Begründungen,
welche der Chowarizmier in seiner Algebra den gegebenen Regeln der
arithmetischen Auflösung hinzufügt, sind keine geometrischen Construc
tionen der Wurzeln, wie Einige*) meinen, sondern eben nur geome
trische Erläuterungen der bei der algebraischen Lösung zur Anwen-
*) Man vergleiche Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Alter-
.thum und Mittelalter. S. 263. Z. 7 u. 14 v. o.