Full text: Mathematik und Logik

44 
Der Aufbau dev Geometrie. 
(3. Daß die Geometrie den einen als „reine Schöpfung des 
menschlichen Denkens“, anderen dagegen als eine Erfahrungs 
wissenschaft vorschwebt, während wieder andere keine bestimmte 
Stellungnahme zu erkennen geben, macht sich besonders in den für 
den Schulunterricht bestimmten oder auf ihn bezüglichen Büchern 
fühlbar. Wenn man nämlich genauer zusieht, so findet man 
nirgends eine jener beiden Anschauungen rein durchgeführt, viel 
mehr werden sie meist miteinander vermengt, so daß der Vortrag, 
selbst wenn er überwiegend von der einen Anschauung beherrscht 
wird, doch auch den Einfluß der anderen erkennen läßt. Dadurch 
werden aber Widersprüche in den Grundaufstellungen bedingt. 
Man kann z. B. an einer Stelle den Körper als einen „allseitig 
begrenzten Teil des Raums“ bezeichnet finden, während in dem 
selben Buch kurz vorher oder kurz nachher von einer Bewegung 
des Körpers gesprochen wird; ein „Teil des Raums“ ist aber 
nichts Bewegliches. 
Bestandteile, die auf Erfahrung als ihre Quelle deuten, wird man 
in jedem Lehrgang der Geometrie nachweisen können, auch dann, 
wenn der Verfasser die Geometrie nicht als Erfahrungswissenschaft 
betrachten will, und man wird gerade diese Bestandteile vergebens 
auszuschalten suchen. Will man also der Gefahr entgehen, zwei 
einander widersprechende Anschauungen nebeneinander wirken zu 
lassen, so muß man sich dazu entschließen, die Geometrie als Er 
fahrungswissenschaft zu behandeln. 
7. Wer eine dieser Auffassung durchweg entsprechende Ein 
führung in die Geometrie herzustellen versucht x ), stößt gegenwärtig, 
w T eil die dazu erforderliche wissenschaftliche Vorarbeit noch weit 
zurück ist, auf bedeutende Schwierigkeiten und kann seine Absicht 
nicht mit vollem Erfolg durchführen. Infolgedessen schlüpfen die 
„reinen Gedanken dinge“ immer wieder hinein. 
Soll die als erforderlich bezeichnete wissenschaftliche Vorarbeit 
zustande kommen, so muß man die ersten Erklärungen in der 
Geometrie einer einschneidenden Nachprüfung unterwerfen, um sie 
mit der Auffassung, wonach die Geometrie eine Erfahrungswissen- 
schaft ist, in Einklang zu bringen. Diese Nachprüfung muß den 
Forderungen, die für Definition und Beweis in der Mathematik 
gelten, in vollem Umfang gerecht werden. Gewiß wird das Er 
gebnis solcher Arbeit in seiner streng wissenschaftlichen Form 
für Unterrichtszwecke nicht verwendbar sein. Aber zur wissen 
*) Einen wertvollen Versuch dieser Art stellt das „Lehrbuch der Mathe 
matik“ von A. Thaer und G. Lony dar, von dem bisher leider nur Aus 
gäbe ß, Band 1, erschienen ist (Breslau, Ferdinand Hirt, 1915).
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.