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Der Aufbau dev Geometrie.
(3. Daß die Geometrie den einen als „reine Schöpfung des
menschlichen Denkens“, anderen dagegen als eine Erfahrungs
wissenschaft vorschwebt, während wieder andere keine bestimmte
Stellungnahme zu erkennen geben, macht sich besonders in den für
den Schulunterricht bestimmten oder auf ihn bezüglichen Büchern
fühlbar. Wenn man nämlich genauer zusieht, so findet man
nirgends eine jener beiden Anschauungen rein durchgeführt, viel
mehr werden sie meist miteinander vermengt, so daß der Vortrag,
selbst wenn er überwiegend von der einen Anschauung beherrscht
wird, doch auch den Einfluß der anderen erkennen läßt. Dadurch
werden aber Widersprüche in den Grundaufstellungen bedingt.
Man kann z. B. an einer Stelle den Körper als einen „allseitig
begrenzten Teil des Raums“ bezeichnet finden, während in dem
selben Buch kurz vorher oder kurz nachher von einer Bewegung
des Körpers gesprochen wird; ein „Teil des Raums“ ist aber
nichts Bewegliches.
Bestandteile, die auf Erfahrung als ihre Quelle deuten, wird man
in jedem Lehrgang der Geometrie nachweisen können, auch dann,
wenn der Verfasser die Geometrie nicht als Erfahrungswissenschaft
betrachten will, und man wird gerade diese Bestandteile vergebens
auszuschalten suchen. Will man also der Gefahr entgehen, zwei
einander widersprechende Anschauungen nebeneinander wirken zu
lassen, so muß man sich dazu entschließen, die Geometrie als Er
fahrungswissenschaft zu behandeln.
7. Wer eine dieser Auffassung durchweg entsprechende Ein
führung in die Geometrie herzustellen versucht x ), stößt gegenwärtig,
w T eil die dazu erforderliche wissenschaftliche Vorarbeit noch weit
zurück ist, auf bedeutende Schwierigkeiten und kann seine Absicht
nicht mit vollem Erfolg durchführen. Infolgedessen schlüpfen die
„reinen Gedanken dinge“ immer wieder hinein.
Soll die als erforderlich bezeichnete wissenschaftliche Vorarbeit
zustande kommen, so muß man die ersten Erklärungen in der
Geometrie einer einschneidenden Nachprüfung unterwerfen, um sie
mit der Auffassung, wonach die Geometrie eine Erfahrungswissen-
schaft ist, in Einklang zu bringen. Diese Nachprüfung muß den
Forderungen, die für Definition und Beweis in der Mathematik
gelten, in vollem Umfang gerecht werden. Gewiß wird das Er
gebnis solcher Arbeit in seiner streng wissenschaftlichen Form
für Unterrichtszwecke nicht verwendbar sein. Aber zur wissen
*) Einen wertvollen Versuch dieser Art stellt das „Lehrbuch der Mathe
matik“ von A. Thaer und G. Lony dar, von dem bisher leider nur Aus
gäbe ß, Band 1, erschienen ist (Breslau, Ferdinand Hirt, 1915).