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Einleitung.
Begriffen werden diejenigen ansgewählt, die zur Grundlage dienen
sollen. Der Nachweis der Zulässigkeit der getroffeneu Auswahl ist
rein deduktiv und fordert dreierlei: erstens den Nachweis derWider-
spruchslosigkeit, zweitens den der Unabhängigkeit*) der auf
gestellten Grundsätze und -begriffe untereinander, drittens den Nach
weis der Vollständigkeit des aufgestellten Systems, d. h. den Nach
weis, daß es keine andern richtigen Sätze der Geometrie gibt, als
solche, die aus dem aufgestellten System von Grundsätzen gefolgert
werden können. Bei dieser deduktiven Prüfung der Grundlagen er
scheinen die geometrischen Begriffe: Punkt, Gerade usw. ihres kon
kreten Anschauungsinhaltes entkleidet und es darf mit ihnen ledig
lich auf Grund der für sie aufgestellten Erklärungen und Grundsätze,
also abstrakt**) operiert werden. Auf das Hilfsmittel gezeichneter
Figuren braucht darum nicht verzichtet zu werden, nur muß man sich
stets vergegenwärtigen, daß die gezeichnete Figur nicht in allen,
sondern nur in den verabredeten Eigenschaften ein Repräsentant der
gedachten Figur ist, so daß in der Deduktion nur von diesen Ge
brauch gemacht werden darf. Übrigens ist hiermit zugleich der Grund
angegeben, warum ein an einer speziellen Figur geführter Beweis
allgemein gilt: man macht keinen Gebrauch von den besonderen
Eigenschaften der Figur, sondern nur von denen, auf die sich der zu
beweisende Satz bezieht, die also auch allen demselben Satz genügen
den Figuren zukommen. Man braucht daher zur Erklärung jener Tat
sache nicht, wie einige Philosophen wollen, zu der unhaltbaren Vor
stellung der Figuren als beweglicher seine Zuflucht zu nehmen, oder
wie andere, einen Analogieschluß darin zu sehen.***)
Die Grundsätze sind von verschiedener Art. Der Satz: Durch
zwei verschiedene Punkte ivird eine Gerade eindeutig bestimmt, scheint
derart unlöslich mit dem Begriff' der Geraden verbunden, daß es natur
gemäß ist, die Erklärung der Geraden so abzufassen, daß dieser Satz
darin enthalten ist. Sätze dieser Art, d. h. Sätze, denen eine unmittel
bare anschauliche Gewißheit zuzukommen scheint, heißen Axiome. Von
andrer Art ist z. B. der Archimedische Satz der Meßbarkeit: Durch hin
*) Im allgemeinen werden wir nur die Unabhängigkeit jedes Grundsatzes
von den vorhergehenden beweisen, da im übrigen meist schon begriffliche
Unabhängigkeiten bestehen.
**) Ygl. z. B. 0. Holder, Anschauung und Denken in der Geometrie,
Leipzig 1900, p. 14. Veronese 1. c. p. XVI, VI, p. XVII Z. 11—14. Cayley, The
abstract geometrie. Phil. Trans. Lond. 1870. Gegen eine abstrakte Geometrie
wendet sich z. B. F. Klein, Math. Ann. 37 (1890) p. 571.
***) Vgl. 0. Holder, 1. c. p. 12. Kroman, Unsere Naturerkenntnis, deutsch
von Fischer-Benzon 1883, S. 74—79. Sigwart, Logik Bd. 2 S. 226.