Vorrede des Verfassers.
XV
machen auch Anspruch auf grössre Gedankenschärfe, weil für uns in absolutem
Sinn Nichts zu vernachlässigen ist nicht einmal das Unendlichkleine, wenn es
zu dem Endlichen hinzugefügt wird und wenn Etwas im Vergleich mit Ande
rem vernachlässigt wird, so muss dies aus einem mathematischen Grund und
nicht der praktischen Annäherung wegen geschehen. Der Empirist kann uns
nicht vorwerfen, wir behielten den praktischen Zweck der Wissenschaft nicht
im Auge und unsre geometrischen Hypothesen wurzelten nicht in der Erfah
rung und würden nicht durch geistige Thatsaehen bestätigt. *)
Wir erkennen sehr gern die Hülfe, welche die empirische Beobachtung
der Mathematik im Allgemeinen leistet, und die Nothwendigkeit an, die geome
trischen Axiome durch sie festzustellen; wir können aber andrerseits nicht ver
kennen, dass der Rohstoff, den uns die sinnlichen Eindrücke liefern, durch
unsern Geist verarbeitet wird und dass das subjective Element in der reinen
Mathematik, der Geometrie und der rationalen Mechanik den Vorrang vor dem
objectiven Element hat und dass wir alle überdies die ersten idealen geome
trischen Formen in uns besitzen, noch ehe wir mit dem Studium der Geometrie
beginnen und ohne voraussetzen zu müssen, diese Formen seien eben die
reellen Gegenstände mit ihren sämmtlichen Ungenauigkeiten. Es gibt nicht
wenige empiristische Philosophen, welche die Ansicht vertreten, die geome
trischen Formen seien ideale Formen oder doch wenigstens nicht die sinnlichen
Eindrücke selbst, welche die Gegenstände in uns hervorrufen. 1 2 ) Sie sind ein
Product der Anschauung mit der Abstraction combinirt. Cayley bemerkt
Stuart Mül gegenüber treffend, wenn wir den Begriff der graden Linie nicht
hätten, so könnten wir nicht behaupten, die Grade existire nicht in der Natur. 3 )
Was für eine mathematisch mögliche Hypothese, gilt, muss auch für den
Beweis in der reinen Mathematik wie in der Geometrie gültig sein; er muss
nämlich in allen, einfachen Theilen, aus welchen er besteht, vollständig
durch die vorausgehenden Eigenschaften oder Eigenschaften, welche die un
mittelbare und augenscheinliche Folge oder verschiedene Formen dieser Eigen
schaften sind, bestimmt sein und es darf in der Kette der Eigenschaften, welche
ihn zusammensetzen, kein Widerspruch vorhanden sein.
Die Bedingungen, welchen die geometrischen Axiome und die Hypothesen
unterworfen werden müssen, wenn man das wissenschaftliche Problem, welches
uns vorliegt, in seiner ganzen Allgemeinheit und Einfachheit behandeln will,
sind nach dem, was wir gesagt haben und später ausführen werden, die
folgenden:
I. Von den geometrischen Axiomen müssen die Wahrheiten, welche sich aus
1) Siehe darüber den Anhang, in welchem wir das Buch von Pasch „Ueber neuere
Geometrie. Leipzig, 1882“ einer Besprechung unterziehen.
2) Siehe z. B. Masci, Erdmann, Baumann, Wundt a. a. 0. Loche z. B., welcher
ein entschiedener Empirist ist, hält dafür, die Idee des reinen Raums sei von der Idee der
Starrheit oder Festigkeit der Körper und diese von der Idee des Raums verschieden und
die Theile des Raums seien unbeweglich (Baumann, a. a. 0. S. 377).
3) Report of the 53 d meeting of the Brit. Ass. 1883. London, 1883. Ins Franzos,
übersetzt in dem Bulletin des sciences mathématiques. Jan. und Febr. 1884.