Ilistoiisch-kritische Untersuchungen über clie Principien der Geometrie. 635
Anteilig dieses Jahrhunderts das Bedürfmss einer Reform der Principien der
Mathematik und Geometrie nicht gefühlt hat. Archimedes betrachtete die Grade
als die kürzeste zwischen zwei Punkten liegende Linie. Diese Eigenschaft als
Definition der Graden wird heutigen Tages mit Recht von vielen Mathematikern
verworfen, weil sie einen analytischen sehr complicirten Begriff enthält. 1 ) Der
grosse Syrakuser hat aber diese Eigenschaft der Graden in einem Postulat
gegeben, ohne damit die Grade selbst definiren zu wollen; gegen das Postulat
lassen sich dann freilich ähnliche Einwände erheben. Diese Definition wurde
später von dem berühmten Legendre verschlechtert, welcher die Grade als den
kürzesten Weg zwischen zwei Punkten bezeichnete, da man unter Weg nicht
die Linie sondern nur die Länge der Linie verstehen kannA)
Leibniz beschäftigte sich eingehend als Philosoph und Mathematiker auch
mit unsrem Problem, suchte einige Axiome Euclid’s zu beweisen und schlug
verschiedene Definitionen für die Grade und die Ebene vor. * 1 2 3 )
Er definirt z. B. die Ebene, nachdem er die Kugel definirt hat, als Ort
der von zwei gegebenen Punkten A und B gleichweit abstehenden Punkte und
die Grade als Ort der von drei Punkten A, B, C gleichweit abstehenden Punkte.
Man sieht also, dass auch Leibniz die Idee hatte, die Ebene und die Grade
mittelst der Kugel zu erzeugen. 4 ) Er betrachtete die Grade auch als eine
Linie, deren Punkte sich nicht bewegen, wenn man zwei ihrer Punkte festhält,
eine Definition, die schon vor Leibniz bekannt war. Am häufigsten aber be
nutzt er die Definitionen, dass die Ebene die Fläche ist, welche den Raum in
zwei congruente Theile zerlegt, die Grade dagegen die Linie, welche die Ebene
in congruente Theile zerlegt. 5 )
Unter congruenten Figuren versteht er diejenigen, welche gleich und
ähnlich sind. Diese Figuren sind in unsrem Sinn identisch, haben aber nicht
immer denselben Sinn, obwohl dann Leibniz bei ihrer Definition hinzufügt,
oft Euclid den Vorwurf, die Axiome über die Grössen mit den geometrischen Axiomen
vermengt zu haben, und in der That gibt man in vielen Uebersetzungen dem Postulat über
die Parallelen die Nummer XI, in andern die Nummer XII. In der griechischen Ausgabe,
welche mit einer lateinischen Uebersetzung von Heiberg (a. a. 0.) veröffentlicht wurde,
heissen die ersten Axiome gewöhnliche Begriffe, während die Postulate, deren es im Ganzen
fünf sind, von ihnen getrennt aufgeführt werden.
Unter den gewöhnlichen Begriffen befindet sich das Axiom VIII „Zwei Dinge, welche
zusammenfallen, sind gleich.“ Man weiss wirklich nicht, welche Bedeutung Euclid diesem
Axiom hat beilegen wollen, da er doch später von Prop. IV Buch I an von dem Princip
der Bewegung starrer Körper Gebrauch macht. Der obige Vorwurf trifft dagegen zweifellos
Legendre, welcher in seinen Elements de géométrie die Axiome über die Grössen mit den
geometrischen Axiomen durcheinander mengt.
1) De sphaera et cylindro. Siehe darüber: Du Bois Reymond: Erläuterungen zu den
Anfangsgründen der Variationsrechnung. Math. Ann. XV. 1879.
2) Hoüel (Essai critique sur les principes fondamentaux de la géométrie. Pans, 1882)
bemerkt mit Recht, dass die Autoren, welche eine solche Definition der graden Linie
geben, consequentermassen das Postulat III des Archimedes als Definition der Ebene geben
müssten nämlich: Die ebene Fläche ist die kleinste von allen Flächen, welche durch den
selben Umfang begrenzt werden. .
3) Leibniz’ math. Schriften, herausg. von Cr. J. Gerhardt, Berlin 1849, Bei 5. — Garacte-
ristica geometrica. Analysis geometrica propria. HL De analysi situ IV. m Euclidis nçàtcc.
4) Siehe auch den Brief an Huyghens a. a. 0. Bd. II, S. 20.
5) A. a. 0. Bd II, S. 174 und der Brief an V. Giordano Bd. I, S. 196.