644 Historisch-kritische Untersuchungen über die Principien der Geometrie.
Die zweite Hypothese Riemanris bezieht sich auf die Unabhängigkeit der
Länge der Linien vom Ort; es ist mithin, wie er sagt, „jede Linie durch jede
messbar“. 1 ) Bei der Bestimmung der Linie nach Riemann müssen die Coordi-
naten ihrer Punkte Functionen einer Variablen sein. Wenn wir ihn richtig
verstehen, setzt er liier solche Functionen voraus, dass die von ihnen darge
stellten Linien durch eine beliebige dieser Linien messbar seien. Die obige
Hypothese bezieht sich daher nicht auf die Starrheit der Linie, sondern nur
auf die Beibehaltung ihrer Länge.
Um diese Hypothese analytisch aufzustellen, nimmt er an, das Linien-
element sei eine homogene Function ersten Grades in den dX{ } welche unver
ändert bleibt, wenn man das Vorzeichen aller dx¡ ändert und deren Constauten
stetige Functionen der x¿ sind.
Die dritte Hypothese drückt aus, dass das Linienelement der Mannigfaltig
keit der Quadratwurzel aus einer ganzen homogenen und positiven Function
zweiten Grades der Grössen dx gleich ist und dass in dieser Function die
Coefficienten stetige Functionen der Grössen x sind.
Die vierte Hypothese lässt die constante Krümmung der Mannigfaltigkeit
zu, welche der Eigenschaft der Möglichkeit des Aufeinanderlegens der Theile
der Mannigfaltigkeit entspricht.
Diese Hypothesen sind wie man sieht geometrisch nichts weniger als ein
fach oder gar anschaulich. Die Methode ist indirect; demi wüsste man nicht,
dass das Linienelement für den Kuclid'sehen Raum ds = ]/2Jdx'- ist, so würde
es Niemand in den Sinn kommen, diese Hypothese oder die Hypothese zu
wählen, dass das Linienelement durch die vierte Wurzel aus einem Difterenzial-
ausdruek vierten Grades ausgedrückt wird. 1 2 )
Die Hypothese der constauten Krümmung reicht allein für die Geometrie
nicht aus, da diese den Daten der Erfahrung entsprechen muss. Gauss hat
nachgewiesen, dass die Krümmung einer Fläche sich nicht ändert, wenn sie
ohne Bruch oder Auseinanderziehen gebogen wird oder wenn sie, wie man sagt,
biegsam aber nicht ausdehnbar ist und daher die Massverhältnisse dieselben
bleiben. Man muss jedoch beachten, dass bei dem Biegen einer Fläche auf eine
andre von derselben Krümmung die erste die zweite mehreremal, z. B. eine
endliche oder unendlich grosse Anzahl mal bedecken kann, wie es bei der Ebene
und dem Cylinder der Fall ist. Die Geometrie der zweiten Fläche ist daher
nur dann mit derjenigen der ersten identisch, Avenn man die zAveite als eine
endliche oder unendlich grosse Anzahl verschiedener Flächen betrachtet, die
eine einzige Fläche bilden; denn betrachtet man sie nur als eine einzige und
einfache Fläche, so könnten die Eigenschaften der Lage auf derselben A r er-
1) Er drückt sich so aus: Massbestiuinumgen erfordern eine Unabhängigkeit der
Grössen vom Ort, die in mehr als einer Weise stattfinden kann; die zunächst sich dar
bietende Annahme, Avelche ich hier verfolgen will, ist Avohl die, dass die Länge der Linien
unabhängig von der Lage sei; also jede Linie durch jede messbar sei (II, 1).
2) Riemann seihst sagt: „Für den liaum Avird, wenn man die Lage der Punkte durch
rechtAvinklige Coordinaten ausdrückt, ds = dx* \ der Raum ist also unter diesem ein
fachsten Fall enthalten.“