62
L. Kiepert:
als ich noch als Student an der Universität Berlin immatrikuliert war,
Ostern 1871 einen Ruf an die Universität Freiburg, wo ich zunächst
den Titel Privatdozent hatte, aber schon nach 3 Semestern zum etats
mäßigen außerordentlichen Professor ernannt wurde.
Und dieses Wohlwollen steigerte sich noch von Jahr zu Jahr;
denn Weierstraß hatte für alle seine Schüler, die ihm näher getreten
waren, ein warmes Herz und ein lebhaftes Interesse.
Am meisten bin ich aber Weierstraß zu Dank verpflichtet, daß
er mir die Freundschaft von Felix Klein verschafft hat. Dieser kam
1868 als junger Doktor nach Berlin und erkundigte sich bei Weier-
straß, mit welchem jüngeren Mathematiker er wohl am besten ver
kehren könne. Weierstraß wies ihn an mich, und diesem Umstande
verdanke ich es, daß ich mit Klein bald sehr lebhaft und freundschaft
lich verkehrt habe. Klein teilte mir den Inhalt der Plück er sehen Vor
lesungen mit, und ich erzählte ihm, was ich bei Weierstraß gelernt
hatte. Wir haben dann auch gemeinschaftliche Reisen unternommen und
bei unsern wissenschaftlichen Arbeiten vielmals gleiche Resultate ge
funden, die aber auf ganz verschiedenen Wegen gewonnen waren.
Wie sehr die Studenten Weierstraß schätzten, kam auch bei den
Stiftungsfesten des mathematischen Vereins zum Ausdruck, bei denen
jedes Mitglied und die anwesenden Professoren ein kleines Geschenk mit
einem anzüglichen Verse erhielten. Während nun diese Verse für die
anderen Professoren oft recht boshaft waren, drückten die Verse, die
Weierstraß zugedacht waren, immer die größte Hochachtung und Ver
ehrung aus.
Auch als Tischredner leistete Weierstraß Vorzügliches. Der
mathematische Verein gab damals einen großen „Mathematiker-Ball“, der
sehr vergnügt ausgefallen war, und von dem man noch viele Jahre
nachher gesprochen hat. Der Student, der bei Tisch die Damenrede
in Versen zu halten hatte, schloß mit den Worten: „Hoch sollen die
Frauen leben!“ wobei er natürlich die verheirateten und die unverheira
teten meinte. Das ließ ihm aber Weierstraß nicht durchgehen. Er
erhob sich sofort und hielt auf die unverheirateten Damen eine Rede
in so launiger, witziger Weise und mit solcher Begeisterung, daß wir
uns alle wunderten, weshalb Weierstraß unverheiratet geblieben sei.
Besonders bemerkenswert ist auch die Umsicht und Tatkraft, die
Weierstraß entwickelte, als er am 15. Oktober 1873 das Rektorat an
der Berliner Universität übernahm. Bei den deutschen Universitäten hat
das einjährige Rektorat den Nachteil, daß vieles, was der Verbesserung
dringend bedarf, unterbleibt, weil der jeweilige Rektor das, was er für
nützlich hält, in einem Jahre doch nicht durchsetzen kann und nicht