Full text: Sonderdrucke, Sammelband

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L. Kiepert: 
als ich noch als Student an der Universität Berlin immatrikuliert war, 
Ostern 1871 einen Ruf an die Universität Freiburg, wo ich zunächst 
den Titel Privatdozent hatte, aber schon nach 3 Semestern zum etats 
mäßigen außerordentlichen Professor ernannt wurde. 
Und dieses Wohlwollen steigerte sich noch von Jahr zu Jahr; 
denn Weierstraß hatte für alle seine Schüler, die ihm näher getreten 
waren, ein warmes Herz und ein lebhaftes Interesse. 
Am meisten bin ich aber Weierstraß zu Dank verpflichtet, daß 
er mir die Freundschaft von Felix Klein verschafft hat. Dieser kam 
1868 als junger Doktor nach Berlin und erkundigte sich bei Weier- 
straß, mit welchem jüngeren Mathematiker er wohl am besten ver 
kehren könne. Weierstraß wies ihn an mich, und diesem Umstande 
verdanke ich es, daß ich mit Klein bald sehr lebhaft und freundschaft 
lich verkehrt habe. Klein teilte mir den Inhalt der Plück er sehen Vor 
lesungen mit, und ich erzählte ihm, was ich bei Weierstraß gelernt 
hatte. Wir haben dann auch gemeinschaftliche Reisen unternommen und 
bei unsern wissenschaftlichen Arbeiten vielmals gleiche Resultate ge 
funden, die aber auf ganz verschiedenen Wegen gewonnen waren. 
Wie sehr die Studenten Weierstraß schätzten, kam auch bei den 
Stiftungsfesten des mathematischen Vereins zum Ausdruck, bei denen 
jedes Mitglied und die anwesenden Professoren ein kleines Geschenk mit 
einem anzüglichen Verse erhielten. Während nun diese Verse für die 
anderen Professoren oft recht boshaft waren, drückten die Verse, die 
Weierstraß zugedacht waren, immer die größte Hochachtung und Ver 
ehrung aus. 
Auch als Tischredner leistete Weierstraß Vorzügliches. Der 
mathematische Verein gab damals einen großen „Mathematiker-Ball“, der 
sehr vergnügt ausgefallen war, und von dem man noch viele Jahre 
nachher gesprochen hat. Der Student, der bei Tisch die Damenrede 
in Versen zu halten hatte, schloß mit den Worten: „Hoch sollen die 
Frauen leben!“ wobei er natürlich die verheirateten und die unverheira 
teten meinte. Das ließ ihm aber Weierstraß nicht durchgehen. Er 
erhob sich sofort und hielt auf die unverheirateten Damen eine Rede 
in so launiger, witziger Weise und mit solcher Begeisterung, daß wir 
uns alle wunderten, weshalb Weierstraß unverheiratet geblieben sei. 
Besonders bemerkenswert ist auch die Umsicht und Tatkraft, die 
Weierstraß entwickelte, als er am 15. Oktober 1873 das Rektorat an 
der Berliner Universität übernahm. Bei den deutschen Universitäten hat 
das einjährige Rektorat den Nachteil, daß vieles, was der Verbesserung 
dringend bedarf, unterbleibt, weil der jeweilige Rektor das, was er für 
nützlich hält, in einem Jahre doch nicht durchsetzen kann und nicht
	        
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