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20. Jan. DEUTSCHE LITTERATURZE1TUNG 188З. Nr. 3.
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Mathematische Wissenschaften.
Eugen Netto, Substitutionentheorie und ihre Anwendung auf
die Algebra. Leipzig, Teubner, 1882. VIII u. 290 S. gr. 8°. M. 6,80.
Bisher haben nur französische Mathematiker aus
führliche Behandlungen der Substitutionentheorie ver
öffentlicht, nemlich J. A. Serret in dem vierten Ab
schnitt seines verdienstvollen Handbuches „Algebre
supérieure” und C. Jordan in seinem „Traite des sub-
stitutions et des e'quations algébriques”. An deutschen
Bearbeitungen dieses für die Algebra so wichtigen Ge
bietes fehlte es leider noch gänzlich. Schon deshalb
muss man das Erscheinen des vorliegenden Werkes mit
Freuden begrüfsen, indem es eine fühlbare Lücke aus
füllt. Die Beachtung dieses Buches wird aber eine um
so verdientere sein, als der Herr Verf. darin die Kennt
nisse und Anschauungen niedergelegt hat, die er den
Vorlesungen und Abhandlungen des Herrn Kronecker
verdankt. Damit ist für die Substitutionentheorie eine
ausgezeichnete Grundlage geschaffen, ohne dass damit
die Selbständigkeit des Herrn Verf. wesentlich beein
trächtigt worden wäre.
Dies soll hiermit ausdrücklich ausgesprochen wer
den, damit nicht ferner Stehende durch die Fassung
der Vorrede zu dem Glauben geführt werden, es handle
sich hier mehr oder weniger um die Publication einer
Kroneckerschen Vorlesung. Da nun aber Herr Kro
necker in seinen Vorlesungen auf die eigentliche Sub
stitutionentheorie nur wenig eingeht, so konnte Herr
Netto auch nur durch eigene Arbeit sein Buch zu Stande
bringen, wenn auch eine Reihe Gedanken und Prin
cipien, die von Herrn Kronecker herrühren, als eine
Zierde des Buches hervortreten.
Die neueste grofse Arbeit von Herrn Kronecker:
„Grundzüge einer arithmetischen Theorie der algebrai
schen Gröfsen” konnte der Herr Verf. gar nicht mehr
benutzen, weil sie zu spät erschienen war.
Auch Serrets oben genanntes Werk ist wegen der
Verschiedenheit der Methoden wenig in Betracht ge
kommen, während aus C. Jordans Traite' grundlegende
Begriffe, Gedankenfolgen und Beweise mehrfach ver
wendet sind.
In der ersten Abteilung des Buches sind die Grund
züge der Substitutionentheorie auseindergesetzt und
zwar mit steter Berücksichtigung der ganzen Func
tionen. Es werden dabei die Begriffe der Transitivität,
der Primitivität und des Isomorphismus erläutert, die
algebraischen Beziehungen zwischen Functionen der
selben Gruppe nachgewiesen und einige besondere
Arten von Gruppen untersucht. Zum Schluss wird auch
die analytische Darstellung der Substitutionen angegeben.
In der zweiten Abteilung findet sich die Anwen
dung der Substitutionentheorie auf die algebraischen
Gleichungen und zwar zunächst auf die Gleichungen
2., 3. und 4. Grades. Sodann werden im Anschluss an
Bachmanns „Lehre von der Kreisteilung” die Kreis
teilungsgleichungen behandelt, an die sich die ein
gehende Untersuchung der Abelschen und der Galois-
schen Gleichungen anschliefst. Durch den auch von
Herrn Kronecker benutzten Begriff des Rationalitätsbe
reiches wird ein neues Licht auf die algebraische Auf
lösung der Gleichungen geworfen, sodass schliefslich
noch die allgemeinen Fragen Uber auflösbare Gleichun
gen einer genauen Untersuchung unterzogen werden
können.
Wenn man die nicht unbedeutenden Schwierig
keiten des vorliegenden Gegenstandes in Betracht zieht,
so muss man die grofse Gewantheit, mit welcher der
Herr Verf. die Substitutionentheorie behandelt, rüh
mend anerkennen. Er hat das reichhaltige Material
mit Geschick und mit Klarheit gesichtet und verarbeitet.
Die Fassung ist allerdings etwas knapp, auch würde
die Aufnahme einer gröfseren Anzahl von Beispielen
für das Auftreten von Abelschen und Galoisschen
Gleichungen, um die beschriebenen Methoden wirklich
anzuwenden, zweckmäfsig gewesen sein; trotzdem muss
das Buch als eine wesentliche Bereicherung unserer
mathematischen Litteratur angesehen werden und kann
zum Studium der Substitutionentheorie auf das wärmste
empfohlen werden.
Hannover. L. Kiepert.
Kriegswissenschaft.
Cte. H. d’Ideville, Le maréchal Bugeaud d’après sa corre
spondance intime et des documents inédits 1784 —1849. Paris,
Firmin-Didot, 1881 u. 82. I Bd. XI u. 414 S., II Bd. 602 S. gr. 8°.
Fr. 16.
Leben und Wirken des Marschalls Bugeaud hatte
bisher noch nicht die gebürende Darstellung gefunden.
Graf Ideville ist der Erste, welcher den Gegenstand aus
führlich und zwar auf Grund authentischer, grofsenteils
neuer Quellen behandelt. Ein biographisches Kunst
werk hat freilich auch er nicht geschaffen, denn er
begnügt sich meist seine Quellen: die Gorrespondenz
Bugeauds mit Verwanten, Freunden und Vorgesetzten,
seine Kammer-Reden, Kriegsberichte u. s. w. nach ihrem
Wortlaute widerzugeben und nur den Zusammenhang
durch kurzen Text einigermafsen herzustellen. Doch
kann man im Grunde nur zufrieden sein, dass er es
hierbei hat bewenden lassen, denn an überschwäng
licher Bewunderung seines Helden leistet er schon jetzt
so viel, dass man zu einem richtigen Urteil über den
selben ohne die ausführliche Mitteilung der Quellen-
Documente schwerlich gelangen würde, während letztere
als Ausfluss einer höchst eigenartigen, scharf ausge
prägten Persönlichkeit vollkommen im Stande sind,
ohne weiteres ein ganz charakteristisches Bild der
selben zu geben: »nicht nur des bedeutenden Mannes
auf der Höhe des Lebens, sondern auch seiner inneren
Entwickelung von früher Jugend an.
Auf letztere, besonders psychologisch merkwürdige
Seite des Gegenstandes näher einzugehen, fehlt hier der
Raum. Von allgemeinerem Interesse sind die Lebens
perioden, in denen Bugeaud vor den Augen Europas
auf der Bühne erscheint. Dazu kam es erst unter der
Juli-Monarchie, die den 18f5 mit Halbsold entlassenen
Oberst wider anstellte und bald als wertvolles Werkzeug
erkannte. So wurde ihm nach der Gefangennahme der
Herzogin von Berry deren Bewachung in der Citadelle
von Blaye, im Frühjahr 1833 anvertraut, eine Aufgabe,
welche sich dadurch verwickelte, dass es nicht nur auf
Vereitelung von Befreiungsversuchen, sondern zugleich
darauf ankam, die Schwangerschaft der Herzogin und
die Geburt ihres Kindes, trotz aller legitimistischen In
triguen, zweifellos vor der Welt zu constatieren, ihre