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Besonderbeiten der Róntgenstereoskopie DK: 778.33:778.46
Konturen: jedem Auge ist also wieder ,sein* Bild zugeordnet. Auch in dieser plastischen
Skizze erscheinen die Steine im Vordergrund zum Greifen nahe und die Ruine liegt im
Hintergrund, denn wir haben ja durch diese zweifarbige Konturzeichnung nur die Netz-
hautbilder unserer beiden Augen festgehalten, wie das ja analog jede Stereokamera
auch tut. Damit haben wir den dreidimensionalen Raumeindruck in zweidimensionalen
Bildern eingefangen und festgelegt.
Etwas ganz Besonderes tritt aber ein, wenn man das für das rechte Auge bestimmte Bild
mit dem für das linke Auge bestimmten Bild vertauscht. Das erreicht man durch Um-
drehen der Brille, so dai das linke Auge durch das grüne Filter und das rechte Auge
durch das rote Filter blickt. Jetzt sieht das rechte Auge das, was das linke Auge ursprüng-
lich gesehen hat und umgekehrt. Kein Menschenverstand kann sich das vorstellen! Der
Raumeindruck (Pseudoeffekt) ist nun verflacht, verwirrt, weil die kleine Ruine vorn,
die großen Steine hinten liegen, — alles sinnlos angeordnet; vor dieser grotesken Sachlage
(Pseudostereoskopie) versagt im allgemeinen der Raumeindruck. Das räumliche Wahr-
nehmungsvermögen ist also ein Produkt aus dem, was die Augen berichten, und dem,
was der Verstand als vernünflig anerkennt. Beim Anblick von etwas Sinnlosem sträuben
wir uns gegen den Raumeindruck.
Aber nicht immer bedeutet die Vertauschung des rechten und linken Bildes etwas Sinnloses.
Wheatstone, der Vater der Stereoskopie, hat schon 50 Jahre vor der Geburt einer brauch-
baren Stereophotographie die:e Probleme an Hand von Zeichnungen durchdacht und
studiert. Abb. 4 (Seite 21) zeigt die Wiedergabe einer seiner Originalzeichnungen. Wie
man die Brille auch aufsetzen mag — auch bei Vertauschung der Filter für beide Augen —
immer sieht man etwas „Vernünftiges“: Man kann sich entweder vorstellen, auf einen
Kegel zu blicken (Orthoeffekt) oder in einen Trichter zu schauen (Pseudoeffekt). Beide
mathematischen Körper sind für den Verstand gleichwertig und vorstellbar; deshalb
macht die Raumvorstellung in keinem Falle Schwierigkeiten.
Häufig ist es aber der Fall, daß der Pseudoeffekt nicht nur etwas Sinnloses, sondern
sogar Sinnwidriges darstellt.
Wenn die konkreten Körper als Hohlräume ausgestanzt aus dem Vordergrund ın
Größenverhältnissen erscheinen, die der Perspektive widersprechen, dann ist unsere
Raumvorstellung fassungslos und sucht den Eindruck wie einen bösen Traum durch
vernünftige Erinnerungsbilder zuzudecken.
So zeigt zum Beispiel Abb. 5 (Seite 22) — mit der Rot-Grün-Brille betrachtet — einen
zielenden Schützen. Ebenso wie in Abb. 4 die Spitze des Kegels, so ist hier die Mündung
des Gewehrs auf den Betrachter gerichtet. Dreht man die Brille um, vertauscht also das
Bild für das rechte und linke Auge, so sollte man — in Analogie zum Pseudoeffekt beim
Kegel — annehmen, daß der Schütze jetzt entgegengesetzt vom Betrachter wegschießt
und daß man unter diesen Umständen (ähnlich wie in Abb. 4) in eine Art hohlen
Trichter hineinschaut. Dies ist aber nicht der Fall. Das Bild wirkt nur flach, und der
Schütze zielt nach wie vor auf den Betrachter — weil wir kein Erinnerungsbild dafür
haben, daß ein Mensch, der uns anblickt, gleichsam ein hohler Trichter wäre und entgegen
seiner Blickrichtung eine Flinte anlegt, um nach hinten zu schießen.
Daf aber die Augen be'm Vertauschen der Bilder für das rechte und linke Auge trotzdem
zuverlássig arbeiten, kann man an einer riumlichen Skizze des Schützen-Bildes studieren,
die nur ausgewählte Konturen zeigt (Abb. 6). Hier sehen wir die Mündung des Gewehr-
laufes, den Umriß des Schützen, des Baumes und die fernen Baumstämme zwanglos in
vertauschter Tiefenlage bei Umkehrung der Brille. Sobald aber die abstrakten mathe-
matischen Figuren wieder mit Fleisch und Blut gefüllt sind wie in Abb. 5, bleibt bei der
20 Photographie und Wissenschaft - Heft 2 - Jahrgang 9 + 1960
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