Besonderheiten der Röntgenstereoskopie DK: 778.33:778.46
Betrachtung des Pseudoeffekts die Tiefenwahrnehmung aus, weil etwas vollständig
„Verrücktes“ gesehen wird. In diesem Falle will uns der Verstand vor Wahnsinn be-
wahren, in dem er behauptet, daß seine praktische Erfahrung richtiger wäre als die
richtige Abbildung unserer Augen auf der Netzhaut. — Nicht das Auge also trügt — es
ist keine optische Táuschung — sondern der Verstand verbietet die richtige Wahrnehmung,
weil er es besser weiß!
Dort aber, wo der Verstand nichts weiß, läßt er dem Auge sein Recht, wie zum Beispiel
im Reich der Schatten, die durch das Röntgenlicht entstehen. Hier hat er keine Erfahrung,
hier muß alles neu gelernt werden. Der übliche Begriff des „Schattens“, den unsere Augen
im Sonnenlicht unmittelbar wahrnehmen, ist etwas ganz anderes als der „Schatten“ im
Röntgenlicht, das alle Gegenstände mehr oder minder durchdringt. Der „Röntgen-
schatten“ ist in seiner Intensität Ausdruck des Atomgewichtes der durchdrungenen Materie
und deren Dichte. Dieser Begriffsunterschied des Wortes führt natürlich auch zu Ver-
schmelzungen von anatomischen Vorstellungen und klinischen Erfahrungen. So wird das
Röntgenbild zu einem „Kunst“-Werk im vollsten Sinne des Wortes, dessen Deutung von
dem „Können“ des Arztes abhängt. „Schwarz“ und „weiß“ haben also im Röntgenlicht
etwas anderes zu bedeuten als im Sonnenlicht.
Bei Betrachtung eines stereoskopischen Röntgenbildes kann und muß dieser Umstand
bisweilen zu psychologischen Problemen führen, denn die nahegelegenen Teile verdecken
nicht mehr die ferngelegenen; die Größenverhältnisse der Perspektive sind vertauscht.
Kontrastmittel bringen aber in unsere Raumwahrnehmung (beim unbewußten Vergleich
mit Tatsachen im Sonnenlicht) unter Umständen Verwirrungen hervor, die an den
Pseudoeffekt erinnern.
In diesem Neuland der Erkenntnis und Erfassung des Raumes ist eine zuverlässige Basis
notwendig. Aus der verwirrenden Fülle von Einzelheiten werden wir zweckmäßig die
charakteristischen Punkte und Linien herauszeichnen, damit wir in der „Raumskizze“
plastische Leitlinien haben, um das „Röntgenraumbild“ zu verstehen.
Vieles, ist freilich ohne weiteres verständlich ohne „fachmännische“ Erfahrung. So hat
das Skelett im Röntgenraumbild von Anfang an die Menschheit begeistert. Der mensch-
liche Körper erscheint im Röntgenlicht wie aus Glas. Aber gerade dadurch wird manches
erst schwierig. Das zeigt das einfache Röntgenbild in Abb. 7 (Seite 22). Wer kann entschei-
den, ob der Metallsplitter neben dem Gallenblasenschatten mehr bauchwärts in den
Dàrmen oder hinten in der Leber liegt?
Der Róntgenologe braucht und soll aber kein Kyklop sein, der nur mit einem Auge sieht.
Stereoskopische Róntgenaufnahmen wurden bereits wenige Monate nach der Entdeckung
der X-Strahlen gemacht. Freilich kann man sich in manchen Fillen mit Aufnahmen aus
zwei zueinander senkrechten Richtungen oder mit der Durchleuchtung bei Drehung des
Patienten behelfen. In unserem Falle bringt das stereoskopische Róntgenbild die beste
topographische Festlegung. Wir benótigen gar nicht immer das ganze Róntgenraumbild
mit allen Details. Die Raum-Skizze Abb. 8 (Seite 22) vermittelt alles Wesentliche und
bietet die greifbaren Unterlagen.
Derartige Splitterlokalisationen wurden oft zu Unrecht mitleidig belichelt, — zum
Schaden des gequálten Patienten und des unnótig belasteten Chirurgen. Aber die Welt
besteht nicht nur aus Splittern. Der Medizinstudent hat viel Mühe, bis er sich im
Präpariersaal an der Leiche die Topographie der Organe erarbeitet hat. Warum soll er
als Arzt nicht auch mittels des Róntgenlichtes eine topographische Anatomie am Lebenden
betreiben? Das flache Róntgenbild des Nierenbeckens (Abb. 9, Seite 23) besagt weniger
als das ráumliche Bild in Abb. 10.
Die gedankliche Rekonstruktion aus Aufnahmen in zwei zueinander senkrechten Ebenen
Photographie und Wissenschaft - Heft 2 - Jahrgang 9 - 1960 25
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