Vergleichende Entwicklungsgeschichte der
Pflanzenorgane
von
K. Goebel.
je neueste Zeit brachte uns mehr als einen Versuch, den Werth der Ent-
wicklungsgeschichte als wissenschaftliche Methode herunterzusetzen; Ver-
suche, die an die Feindseligkeit der Rheinschiffer gegen die Dampfboote erinnern.
Auf jene Aeusserungen nach den beredten und schlagenden Darstellungen
SCHLEIDEN's noch Weiteres zu erwidern, hiesse Wasser in's Meer tragen. Die
Thatsachen mógen reden. Es sind etwa 20 Jahre, seit Phytotomen die durch
ROBERT BrOWN gebrochene Bahn in grósserer Anzahl zu betreten begonnen
haben. Die Leistungen dieser 20 Jahre übertreffen intensiv wie extensiv die einer
gleich langen beliebigen anderen: Periode der Botanik in einem Verháltniss, für
welches kaum ein Vergleich sich findet.«!) — Mehr als zwanzig Jahre sind seit dieser
Aeusserung eines Forschers verflossen, dessen entwicklungsgeschichtliche Unter-
suchungen auf immer einen Markstein in der Geschichte der Botanik bilden
werden, und noch immer sind die Meinungen über die Entwicklungsgeschichte
und ihre Bedeutung für die Morphologie getheilt. Während sie von den einen
so ausschliesslich betrieben wurde, dass eine entschiedene Vernachlássigung der
Untersuchung der fertigen Zustände und eine Ueberschátzung des auf mikro-
skopischem Wege Ermittelten eintrat, ist sie andern, wenn entwicklungsgeschicht-
liche Thatsachen in ihr System nicht passen, auch heute noch »unklar und
trügerisch.« — Eine Darstellung, wie sie im Folgenden versucht wird, hat deshalb
vor Allem die Aufgabe, sich über den Standpunkt zu äussern, von dem sie aus-
geht; ist es doch gerade die Aufgabe eines Handbuches im Gegensatz zu der
mehr oder weniger dogmatischen Darstellung, wie sie in einem Lehrbuch in den
Vordergrund zu treten hat, dem Leser die Wissenschaft gewissermaassen bei der
Arbeit selbst zu zeigen, und auf die Verschiedenheit der Auffassungen hinzu-
weisen, was des Raumes wegen hier freilich nur in äusserster Kürze geschehen
kann.
Auch die rein thatsächliche Darstellung der Entwicklungsgeschichte aber
(mit Ausschluss der Zellenlehre) stösst auf Schwierigkeiten. Sie setzt vor Allem
eine Kenntniss der fertigen Formen in ihren wichtigsten Zügen voraus, und so-
dann kann sie niemals Selbstzweck, sondern nur ein Hülfsmittel morphologischer
Forschung sein, das aber nur in Verbindung mit den anderen Methoden der-
1) HOFMEISTER, Botan. Zeit.
1957. pag. 174.