Full text: Handwörterbuch der Mineralogie, Geologie und Paläontologie (2. Abtheilung, 1. Theil, 2. Band)

94 Mineralogie, Geologie und Palaeontologie. 
Das in Folge der Abschmelzung des Gletschers entstehende Wasser fliesst 
durch die Spalten und durch selbsterweiterte, röhrenähnliche Canäle (Gletscher- 
mühlen) der Unterfläche des Gletschers zu, um dann an dieser sich einen Weg 
zu bahnen und endlich durch eine in der Regel höhlenförmig erweiterte Oeffnung, 
das Gletscherthor, als ein kräftiger Bach hervorzubrechen. Die trübe, gelblich- 
weisse Färbung des Wassers zeigt, dass dasselbe reichlich mit suspendirten, festen 
Bestandtheilen beladen ist. Auch die von Gletscherwasser gespeisten Seen in 
den Alpen haben diese Farbe des Wassers, daher die mehrfach vorkommende 
Benennung als weisser See im Gegensatze zu den schwarzen Seen, deren klares, 
tiefgrünes Wasser nicht aus einem Gletscher kommt. So unter anderen bei dem 
lago bianco und lago nero, die dicht nebeneinander auf der Passhöhe des 
Bernina liegen. In den ersteren fliesst das weissliche Wasser des Cambrena- 
gletschers. 
Die untere Grenze eines Gletschers, sein Ende, kann in sehr verschiedener 
Höhe liegen. Es hängt das davon ab, in welchem Niveau für die geographische 
Lage eines Gletschers sich der Zuwachs an Gletschermasse und der Verlust durch 
Abschmelzen das Gleichgewicht hält. 
Nach dem, was im Vorhergehenden über die untere Grenze des ewigen 
Schnees gesagt wurde, ist es verständlich, dass auch die Gletscherenden selbst 
für dieselben Gegenden in sehr verschiedener Höhe liegen können. In den 
polaren Gegenden schreiten dieselben bis zum Meeresniveau herunter; die 
Schmelzlinie der Gletscher des tropischen Amerika liegt im Allgemeinen in einer 
Höhe von 4000—5000 Meter, in den Alpen geht sie bis zu 1700 Meter Hôhe 
hinab, in Norwegen, unter 60—61° nördlicher Breite, bis zu 3—400 Meter. 
Da aber die Verhältnisse der Temperaturen und der Niederschläge in den auf- 
einanderfolgenden Jahren keinesweges für ein Gebiet constant sind, sondern oft eine 
sehr bedeutende Verschiedenheit aufweisen, so gehen daraus für den Haushalt der 
Gletscher, d. i. das Verhältniss von Zuwachs im Firnreservoir und Abschmelzung 
im Gletschergebiete ebenfalls sehr bedeutende Schwankungen hervor, die in einer 
Auf- und Abwärtsbewegung des Gletscherendes, der Gletscherstirn, sich äussern. 
So lange über die Ausdehnung der Gletscher z. B. im Bereiche der Alpen 
historische Nachrichten zurückreichen, bestätigen dieselben, dass die Gletscher 
solchen Schwankungen oder Oscillationen unterworfen waren, wodurch in dem 
einen Falle ihr Ende vorrückt, im anderen Falle sich zurückzieht: »der Gletscher 
stósst oder schwindet«, nennt es der Volksmund. Oilt ist dieses Vor- oder Zurück- 
gehen ein hinlànglich bedeutendes, um es schon im Zeitraume weniger Jahre nach 
langen Strecken messen zu kónnen. 
Wie sehr aber anscheinend im Ganzen gleiche atmosphärische Verhältnisse 
doch in sehr verschiedener Weise zur Wirkung kommen kónnen, auch bei ganz 
nahe gelegenen Gletschern, das zeigt unter anderen das Beispiel der aus demselben 
Gebirgsmassiv niedergehenden beiden Gletscher, des Gornergletschers und des 
Findelengletschers, die nur durch den Kamm des Riffelhorns und Gornergrats 
von einander getrennt sind. Der erstere war noch im Jahre 1859 im Vorschreiten 
begriffen, während der letztere schon mit dem Jahre 1854 zurückzuweichen 
begann. Aber diese Discordanz war in Wirklichkeit nur eine scheinbare, und 
GRUNER wies schon zutreffend darauf hin, dass nur der eine Gletscher hinter dem 
anderen in Folge einer geringeren Empfindlichkeit gegen die allgemeine Ein- 
wirkung der atmosphärischen Bedingungen zurückgeblieben seil). Es besitzt in 
1) Bull. de la Soc. géol. de France, 3. Sefie, IV. pag. 73, auch LAPPARENT, Geologie, pag. 279. 
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