Full text: Handbuch der Botanik (1. Abtheilung, 1. Theil, 1. Band)

   
  
  
  
  
78 Blumen und Insekten. 
bekannt sind, die uns bis jetzt noch als völlig unentzifferte Räthsel gegenüber- 
stehen: 
Dass die Grösse der gefärbten Blüthenhüllen nicht selten in der Weise varirt, 
dass bei derselben Pflanzenart neben einander grossblumige und kleinblumige 
Stócke auftreten, ist bereits im 7. Kapitel bei der Erórterung der Wirkung 
gesteigerter Augenfälligkeit der Blumen, im Einzelnen nachgewiesen worden. 
Nicht minder geläufig ist jedem Botaniker die Thatsache, dass auch häufig auf 
demselben Pflanzenstocke manche Blumen grössere gefärbte Blüthenhüllen haben 
als andere. Wenn wir nun in jedem einzelnen Falle alle diejenigen Umstände 
berücksichtigen, welche auf die Naturzüchtung der Blumen nachgewiesenermaassen 
bestimmend einwirken, so dürfen wir hoffen, dass es uns gelingen wird, manche 
Erscheinungen der Blumenwelt, in denen wir Besonderheiten der Befruchtungs- 
einrichtung mit Grössenunterschieden der gefärbten Blüthenhüllen constant ver- 
knüpft finden, als nothwendige Producte einer natürlichen Entwicklung uns ver- 
ständlich zu machen. 
Welches sind nun aber die Umstände, welche auf die Naturzüchtung der 
Blumen nachgewiesenermaassen bestimmend einwirken? Zuerst und vor Allem 
natürlich die verschiedenen Wirkungen der Kreuzung und Selbstbefruchtung, die 
wir im dritten Kapitel kennen gelernt haben. Wenn nämlich die aus Kreuzung 
hervorgehenden Nachkommen im Wettkampfe mit aus Selbstbefruchtung hervor- 
gehenden schliesslich immer obsiegen, bei ausbleibender Kreuzung aber die 
meisten Pflanzen auch durch Seibsibefruchtung sich viele Generationen hindurch 
fortpflanzeu kónnen, so muss Naturauslese bei solchen Blumen, denen stets über- 
reichlicher Insektenbesuch zu Theil wird, diejenigen zufällig auftretenden Ab- 
änderungen als bleibende Eigenthümlichkeit züchten, ‚welche Kreuzung durch die 
Besucher unausbleiblich machen, gleichgültig, ob dabei die Möglichkeit der 
Selbstbefruchtung verloren geht oder nicht. Ist dagegen der Insektenbesuch 
unzureichend, so können nur solche Blumeneinrichtungen durch Naturzüchtung 
ausgeprägt werden, welche mit Ermöglichung oder Begünstigung der Kreuzung bei 
eintretendem Insektenbesuch die Sicherung der Selbstbefruchtung beim Ausbleiben 
desselben vereinigen. 
Daraus folgt nun zweitens, dass vor Allem dieReichlichkeit desInsektenbesuchs 
auf die Richtung der Naturzüchtung der Blumen von entscheidendem Einflusse sein 
muss. Die Reichlichkeit des Insektenbesuches ist aber nicht nur von der Augen- 
fälligkeit und dem Wohlgeruche einer Blume und von der Reichlichkeit und 
Schmackhaftügkeit der von ihr dargebotenen Lockspeisen, sondern auch von der 
Concurrenz der an demselben Orte gleichzeitig blühenden anderen Blumen“), 
von dem Pollen- und Honigbedarf der an demselben Orte während der Blüthe- 
zeit thätigen Insekten und von den gerade obwaltenden Witterungsverhältnissen, 
also von sehr mannigfaltigen und wandelbaren Umständen abhängig. Es lässt 
sich daher kaum anders als durch umfassende directe Beobachtung feststellen, 
ob einer Blume unter normalen Verháltnissen überreichlicher oder ungenügender 
Insektenbesuch zu Theil wird. 
Erst wenn diese Frage entschieden ist, kónnen wir drittens beurtheilen, in 
welcher Weise ein Variiren der Grósse der gefürbten Blüthen bestimmend auf 
*) Einen schlagenden Beleg hierfür liefert bei Lippstadt Primula elatior, die bis zum Auf- 
blühen von Geum rivale von Hummeln sehr reichlich, alsdann aber nur noch sehr spärlich 
besucht wird, indem die Hummeln nun vorwiegend der letzteren Blume sich zuwenden. 
   
  
  
  
  
  
  
  
   
    
    
   
     
  
    
   
    
   
   
     
  
  
  
  
  
  
   
   
   
     
  
   
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