Anwendungen der mechanischen Wärmetheorie.
V. Dissociation von Körpern.
31) Die Dissociation von Körpern kann in 4 verschiedene Klassen eingetheilt
werden, von denen die ersten 3 durch ein gemeinschaftliches Gesetz in ver-
schiedener Specialisirung, die 4. durch ein abweichendes Gesetz dargestellt
werden!) Diese 4 Klassen beziehen sich darauf, ob und wie viele von den
vorhandenen Kórpern gasfórmig sind.
I. Klasse. Die eigentliche Substanz und ihre beiden dissociirten Bestand-
theile sind gasfórmig: Beispiel: JZ zerfällt in / und Z.
IL. Klasse. Die eigentliche Substanz ist fest, ihre beiden dissociirten
Bestandtheile sind gasfórmig: Beispiel: Carbaminsaures Ammoniak, CO, (NH
zerfällt in Kohlensäure, CO,, und Ammoniak, 2(N H,).
IIL. Klasse. Die eigentliche Substanz ist gasfórmig; von den Bestandtheilen
ist der eine fest, der andere gasformig. Beispiel: Selenwasserstoffsáure, SeH,
gasformig, zerfällt in festes Selen, Se, und Wasserstoff.
IV. Klasse. Die eigentliche Substanz und ihr einer Bestandtheil sind fest,
der andere Bestandtheil ist gasförmig. Beispiel: Kohlensaurer Kalk, CaCO;
zerfällt in Kalk, CaO, und Kohlensäure, CO,.
Bei allen diesen Klassen ist die Frage, die gestellt wird, folgende: Da sich
bei gegebener Temperatur und gegebenem Druck jede von solchen Substanzen
dissociirt, so wird gefragt, welches ist der Gleichgewichtszustand eines Systems,
das aus der eigentlichen Substanz und ihren beiden Bestandtheilen besteht.
Kennt man in diesem Gleichgewichtszustand die relative Menge jeder der drei
Substanzen als Function von Druck und Temperatur, so kann man stets sagen
ob bei gegebenen Gewichtsmengen der Substanzen Gleichgewicht vorhanden
ist oder nicht.
Die gestellte Frage wird einfach beantwortet, indem man das thermo-
dynamische Potential eines solchen Systemes, das aus verschiedenen Bestand-
theilen besteht, aufstellt und die Bedingung einführt, dass bei jedem Process
das thermodynamische Potential nur abnehmen darf, im Gleichgewichtszustand
constant bleiben muss?)
3)2
32) Da alle chemischen Processe immer atomweise vor sich gehen, so ist
es zweckmüssig, was zuerst PLANCK?) gethan hat, nicht die absoluten Gewichts-
mengen der einzelnen Substanzen in die Formeln einzuführen, sondern vielmehr
die Zahl der Moleküle, die eine Umsetzung erfahren kónnen. Um das zu thun,
muss man das thermodynamische Potential einer jeden Substanz nicht auf die
Gewichtseinheit, sondern auf die Grósse des Molekulargewichts, etwa das Gramm-
molekül beziehen.
Die 4 oben angeführten Fálle unterscheiden sich nun dadurch, dass in den
ersten 3 Fällen Gasgemenge vorliegen, nàmlich im 1. Falle ein Gemenge von
3 Gasen, in Fall 2 und 3 ein Gemenge von 2 Gasen, während im 4. Falle kein
Gasgemenge, sondern nur ein einfaches Gas vorhanden ist. Feste Körper, die
gemengt sind, sind es nicht in dem Sinne, wie Gase, da bei ihnen zwischen
jedem Theil der einen Substanz und jedem der andern Substanz eine feste
Grenzfläche existirt.
7) DuHEM, Potentiel thermodynamique, pag. 43ff. 1886.
?) GigBs (l. c.) — DuHEM (l c.) — Streit zwischen LE CHATELIER und Gres, Compt.
rend. ro6. 1889. — Eine einfache Herleitung der folgenden Sütze giebt DEVENTER, OSTWALD,
Zeitschr. 2, pag. 92. 1888.
3) PLANCK, WiED. Ann. 32, pag. 462. 1887; s. auch RIECKE, WIED. Ann. 42, pag. 483. 1892.