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Fernwirkungstheorien. 551
Hypothese setzt also voraus, dass bei jeder Elektrisirung auch die Menge der
gebundenen Elektricität geändert werden kann. Man kann die Thatsache, dass
sich das grössere oder geringere Quantum gebundene Elektricität durch nichts
kenntlich macht, nur so verstehen, dass man das absolute Quantum gebundener
Elektricität in jedem, auch dem kleinsten, Körper als ungeheuer gross ansieht.
Das ist eine von den vielen Schwierigkeiten dieser Hypothese. Andere werden
im Folgenden vorgebracht werden.
Eine andere Hypothese ist von FRANKLIN!) aufgestellt worden, die Hypothese
eines einzigen Fluidums. Das eine von den beiden obigen Fluida wird
beibehalten, z. B. das positive. Ein Körper ist dann positiv, wenn er mehr
von diesem Fluidum enthält, als im normalen Zustande, negativ, wenn er
weniger enthält. Man muss bei dieser Hypothese anch die wägbare Materie
mit in Rechnung ziehen und hat dann eigentlich die Hypothese zweier Fluida,
nur dass das eine, etwa das negative, durch die Materie ersetzt ist. Zwei Theilchen
des Fluidums stossen sich nach dem CovLomB’schen Gesetz ab, ebenso zwei
Theilchen der Materie. Dagegen ziehen sich Fluidumtheilchen und Materien-
theilchen nach demselben Gesetz an. Dagegen kann man, um die gewöhnliche
Gravitation mit zu erklären, annehmen, dass die Anziehung zwischen Fluidum und
Materie caeteris paribus grosser ist, als die Abstossung zwischen Fluidum und
Fluidum, oder zwischen Materie und Materie. Ein zusammengesetztes Element, aus
einem Korpertheilchen und Fluidum bestehend, zieht daher ein ebensolches
Element an. Daher erklärt sich die gewöhnliche Attraction. Die normale Ladung
mit Fluidum hat ein Körper dann, wenn sein Fluidum ein ausserhalb des Körpers
befindliches Fluidumtheilchen ebenso stark abstösst, wie seine Materie es anzieht.
MAXWELL?) macht darauf aufmerksam dass nach dieser Hypothese sehr viel
elektrisches Fluidum zur normalen Ladung eines Gramms Materie gehóre. Denn
1 grm Gold, zu einem Blatt von 1 Quadratmeter ausgewalzt, kann mindestens
noch 60000 elektrostatische Einheiten negativer Elektricität fassen. Seine normale
Ladung muss also noch grósser sein. Es ist dabei unverstándlich, dass die
Dichtigkeit des elektrischen Fluidums so gering sein muss, dass keine noch so
hohe Elektrisirung das Gewicht eines Kôrpers ändert.
Die beiden Hypothesen erklären an sich die rein elektrostatischen
Erscheinungen gleich gut. Die Ladung eines Kórpers durch Mittheilung von
Elektricitát beruht einfach auf einer Zuführung resp. Wegnahme von Fluidum.
Die Influenzwirkungen auf einem neutralen Leiter kommen durch die fern-
wirkenden Kráfte der Fluida zu Stande. Die ganze ältere mathematische Theorie
der Elektrostatik spricht stets von solchen Elektricitátstheilchen, ohne dass
jedoch ihre Folgerungen mit dieser Hypothese fallen. Denn im Grunde beruht
sie nur auf dem erfahrungsmässig bekannten CowLoMPB'schen Gesetz. Zur
Erklärung der Contaktelektricität wird nur noch die Erfahrungsthatsache
hinzugenommen, dass an der Grenzfliche zweier heterogener Kórper eine Kraft
auftritt, welche die Elektricititen scheidet. Diese lässt sich durch eine
verschieden starke Anziehung der verschiedenen Korpermaterien aut die
Elektricitàt erklàren?) Der Unterschied von Leitern und Nichtleitern wird auf
eine freie Beweglichkeit des Fluidums in den ersten, und ein Festhaften derselben
an den Molekülen in den zweiten geschoben.
1) FRANKLIN, s. PRIESTLEY, a. a. O,
2) MAXWELL, Elektr. u. Magnetismus, § 37.
3) y. HELMHOLTZ, Gesamm. Abhandl. I, pag. 858.