72 Allgemeine Einleitung in die Astronomie.
Auch WiLHELM IV., Landgraf von Hessen!) (1532 —1592), welcher sich in
Kassel eine Sternwarte erbaute und daselbst anfünglich mit SCHONER, später mit
ROTHMANN .‚(T 1596) und BÜürcı (1552—1632) beobachtete, scheint sich eher dem
TycHOoNI'schen System angeschlossen zu haben, wie sich aus dem von ROTHMANN
verfassten Werke über den Kometen von 1585 folgern lásst. Ueberhaupt scheinen
die Arbeiten TvcHo's seit seinem Besuche bei WiLHELM von Hessen im Jahre 1575
von wesentlichem Einfluss auf den letzteren gewesen zu sein. Bemerkenswerth
ist, dass in dem eben erwühnten Werke über den Kometen von 1585 sich auch
eine Ephemeride des Kometen ähnlich der von Tycxo für den Kometen von
1577 gegebenen findet. Besondere Verdienste erwarb sich WILHELM von Hessen
auch noch durch die sorgfältige und wiederholte Beobachtung von Fixsternen.
Dabei wurde die alte Methode der direkten Bestimmung von Länge und Breite
verlassen; es wurden die Deklinationen aus Meridianhöhen, die Rectascensionen
aus den Differenzen der Durchgangszeiten durch den Meridian ermittelt, wobei
also, wie es scheint, zum ersten Male für die direkte Rectascensionsbestimmung
die Uhr verwendet wurde, und schliesslich aus den Aequatorcoordinaten die
Eklipticalcoordinaten abgeleitet. Bei der Bestimmung der Deklinationen hatte
WILHELM von Hessen bereits die Refraction berücksichtigt. BüRGr soll sich über-
dies besondere Verdienste durch die Construction guter Uhren sowie durch die
Erfindung eines den Logarithmen ähnlichen Algorithmus erworben haben.
Unterdessen war in der Kirche ein Umschwung eingetreten. Die COPERNICANI-
sche Lehre war mehr als irgend eine andere wissenschaftliche Reform ge-
eignet, den Sieg der Wissenschaft über den Dogmatismus anzubahnen. Und
wenn erst das durch die Kirche sanctionirte Dogma von der Bewegung der
Sonne fallen gelassen wurde, so lag fiir die Kirche die Gefahr nahe, dass auch
bald andere Dogmen nachfolgen könnten. Es trat demnach eine den Fortschritt
der Wissenschaften hemmende Reaction ein; die Wissenschaft musste dem
Dogma der Religion untergeordnet werden, für die Physik war ARISTOTELES, für
die Astronomie PToLEMÄUS die unanfechtbare Autorität. Im Jahre 1600 fiel der
gelehrte und aufgeklärte GIORDANO BRUNO, ein Anháünger des CoPEnNiCANI'schen
Systems, dieser Richtung zum Opfer, am 17. Februar wurde er von der Inquisition
dem Scheiterhaufen übergeben. Es war damals ziemlich gefáhrlich — am meisten
allerdings in dem unter geistlicher Herrschaft stehenden Italien — das heliocen-
trische System anzuerkennen, und viele stellten sich aus Utilitätsgründen auf den
TvcHoNrschen Standpunkt.
Die TvcHoNrsche Planetentheorie, welche im Grunde genommen für die
oberen Planeten nur eine Transposition des CoPERNICANIschen, für die unteren
Planeten identisch mit dem ProrrMAlschen ist, findet sich auseinandergesetzt in
1) 1532 dem Landgrafen PHILIPP dem Grossmüthigen geboren, studirte er anfänglich in
Cassel, ging 1546 nach Strassburg, ergriff jedoch im folgenden Jahre, nachdem sein Vater in
Gefangenschaft gerathen, die Zügel der Regierung, befreite seinen Vater 1552 und widmete
sich wieder den Studien. Für einige Zeit war der von ihm aus Nürnberg berufene SCHONER
in Kassel und beobachtete auf der daselbst 1561 erbauten Sternwarte sehr fleissig. 1566 ver-
mählte sich WILHELM IV. mit SABINE von Württemberg und übernahm 1567 nach dem Tode
seines Vaters die Regierung. Durch den Besuch TYcHo’s neuerdings angeeifert, berief er 1577
ROTHMANN und den Uhrmacher BürGI. Nachdem der erstere 1590 von der Sternwarte schied,
hatte BÜRGI fortan die sämmtlichen Arbeiten an der Sternwarte zu besorgen, und blieb auch
nach dem am 25. August 1592 erfolgten Tode des Landgrafen WILHELM nach dem Wunsche
des neuen Landgrafen MORITZ in seiner seitherigen Stellung.