90 Kausalgesetz und Willensfreiheit
Nach diesem Satze richten wir unser ganzes praktisches
Handeln ein, er ist uns durch tägliche, stündliche Übung
so vollständig in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir ihn
sogar halb unbewußt anwenden.
Wenn jemand — um zunächst bei einem ganz trivialen
Beispiel zu bleiben —, der ruhig in seinem Zimmer sitzt,
unvermutet ein auffallendes Geräusch hört, so wendet er
wohl den Kopf, um sich nach der Ursache des Geräusches
umzusehen; und wenn er seine Erwartung, dieselbe durch
den Augenschein zu entdecken, nicht bestätigt findet, so
vermutet er sie vielleicht in einem anderen Zimmer des
Hauses, vielleicht auch draußen auf der Straße, vielleicht
auch in noch größerer Entfernung, und wenn alles dieses
nicht zutrifft, sieht er sich schließlich wohl veranlaßt, an
eine subjektive Sinnestäuschung, eine Halluzination, zu
denken.
Wie aber, so wollen wir einmal fragen, wenn alle diese
Möglichkeiten nicht in Betracht kommen? Ist es von vorn-
herein ganz ausgemacht und gar nicht anders denkbar, daß
es für ein Ereignis in jedem Falle eine natürliche Ursache
geben muß? Würde man auf einen logischen Widerspruch
stoßen, wenn man den Kausalzusammenhang sich einmal
ganz wegdenken wollte? Eine einfache Überlegung zeigt
uns, daß diese Frage entschieden zu verneinen ist. Denn
wir können uns sehr wohl denken, daß ein gehörtes Geräusch
gar keine natürliche Ursache hat. In einem solchen Falle
reden wir von einem Wunder oder auch von Zauberei. Schon
der einfache Hinweis auf die Existenz einer großen und
reichen Weltliteratur darüber beweist uns, daß sich Wunder
sehr wohl denken lassen. Ja, wir können uns ohne Schwierig-
keit denken, daß in der Welt sozusagen alles drunter und
drüber geht; denken können wir uns, daß morgen die Sonne
zur Abwechslung einmal im Westen aufgeht, denken und in
allen Einzelheiten ausmalen können wir uns, daß sich im
nächsten Augenblick die Tür dieses Saales öffnet, und daß
leibhaftig hereingeschritten kommt irgendeine längst ab-
geschiedene historische Persönlichkeit, vielleicht gar der
Stifter unserer Akademie, um sich einmal umzusehen, was
aus seiner Sozietät der Wissenschaften geworden ist.
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