Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 1)

    
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
212 Positivismus und reale Außenwelt 
Tatbestand, und der Vorzug der kopernikanischen Theorie 
besteht lediglich darin, daß ihre Art der Formulierung sich 
als die einfachere und allgemeiner brauchbare erwiesen hat, 
da in der Ptolemäischen Ausdrucksweise viel mehr Kompli- 
kationen in der Fassung der astronomischen Gesetze not- 
wendig sein würden. Danach ist Kopernikus nicht als bahn- 
brechender Entdecker, sondern als genialer Erfinder zu be- 
werten. Von der großen Umwälzung der Geister, welche 
seine Lehre hervorrief, von den erbitterten Kämpfen, die um 
sie geführt wurden, nimmt der Positivismus ebensowenig 
Notiz wie von dem Gefühl der stillen Ehrfurcht, welches 
der Anblick des gestirnten Himmels in dem andächtigen 
Beschauer erweckt, wenn er sich vergegenwärtigt, daß jeder 
Stern in der Milchstraße eine Sonne von der Art der unsrigen 
ist und daß jeder Spiralnebel wieder eine Milchstraße dar- 
stellt, von der das Licht viele Millionen von Jahren ge- 
braucht, um zu uns zu gelangen, während die Erde mit 
dem ganzen Menschengeschlecht darauf inmitten dieses Wel- 
tengebäudes zu einer schier unfaßbaren Bedeutungslosigkeit 
herabsinkt. 
Doch das sind Gedanken, die auf ästhetisches und ethisches 
Gebiet hinübergreifen. Wir dürfen ihnen an dieser Stelle, 
wo es sich um erkenntnistheoretische Fragen handelt, keinen 
Spielraum gewähren. Fahren wir daher in unserm logischen 
Gedankengang fort. 
Da nach der positivistischen Lehre die Sinnesempfindungen 
als das primär Gegebene die unmittelbare Wirklichkeit be- 
deuten, so ist es prinzipiell unrichtig, von Sinnestäuschungen 
zu sprechen. Was uns unter Umständen täuschen kann, sind 
nicht unsere Sinnesempfindungen selber, sondern die Schluß- 
folgerungen, die wir manchmal aus ihnen ziehen. Wenn wir 
einen geraden Stab schräg ins Wasser halten und ihn an der 
Eintauchstelle geknickt sehen, so wird die Knickung uns 
nicht durch die Lichtbrechung vorgetäuscht, sondern die 
Knickung ist tatsächlich als optische Wahrnehmung vor- 
handen, und es ist nur eine andere und für manche Anwen- 
dungen zweckmäßigere Ausdrucksweise, wenn wir dies so 
formulieren, daß die Sinnesempfindung sich ebenso verhält, 
als ob der Stab gerade wäre und als ob die Lichtstrahlen,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.