Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

       
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
100 Religion und Naturwissenschaft 
Naturvorganges betreffende sinnvolle Frage eine eindeutige Antwort 
gibt, und dies Gesetz besitzt, soweit wir sehen können, ebenso wie 
das Energieprinzip, genaue Gültigkeit, auch in der allerneuesten 
Physik. Was wir aber nun als das allergrößte Wunder ansehen 
müssen, ist die Tatsache, daß die sachgemäßeste Formulierung 
dieses Gesetzes bei jedem Unbefangenen den Eindruck erweckt, als 
ob die Natur von einem vernünftigen, zweckbewußten Willen regiert 
würde. 
Ein spezielles Beispiel möge das erläutern. Bekanntlich wird ein 
Lichtstrahl, der in schräger Richtung auf die Oberfläche eines durch- 
sichtigen Körpers, etwa auf eine Wasserfläche, trifft, beim Eintritt 
in den Körper von seiner Richtung abgelenkt. Die Ursache für diese 
Ablenkung ist der Umstand, daß das Licht sich im Wasser langsamer 
fortpflanzt als in der Luft. Eine solche Ablenkung oder Brechung 
findet also auch in der atmosphärischen Luft statt, weil in den tiefe- 
ren, dichteren Luftschichten das Licht sich langsamer fortpflanzt als 
in den höheren. Wenn nun ein Lichtstrahl von einem leuchtenden 
Stern in das Auge eines Beobachters gelangt, so wird seine Bahn, 
wenn der Stern nicht gerade senkrecht im Zenith steht, infolge der 
verschiedenen Brechungen in den verschiedenen Luftschichten eine 
mehr oder weniger komplizierte Krümmung aufweisen. Diese Krüm- 
mung wird nun durch das folgende einfache Gesetz vollkommen be- 
stimmt: unter sämtlichen Bahnen, die vom Stern in das Auge des 
Beobachters führen, benutzt das Licht immer gerade diejenige, zu 
deren Zurücklegung es, bei Berücksichtigung der verschiedenen 
Fortpflanzungsgeschwindigkeiten in den verschiedenen Luftschichten, 
die kürzeste Zeit braucht. Die Photonen, welche den Lichtstrahl bil- 
den, verhalten sich also wie vernünftige Wesen. Sie wählen sich 
unter allen möglichen Kurven, die sich ihnen darbieten, stets die- 
jenige aus, die sie am schnellsten zum Ziele führt. 
Dieser Satz ist einer großartigen Verallgemeinerung fähig. Nach 
allem, was wir über die Gesetze der Vorgänge in irgendeinem physi- 
kalischen Gebilde wissen, können wir den Ablauf eines jeden Vor- 
ganges in allen Einzelheiten durch den Satz charakterisieren, ‚daß 
unter allen denkbaren Vorgängen, welche das Gebilde in einer be- 
stimmten Zeit aus einem bestimmten. Zustand in einen andern be- 
stimmten Zustand überführen, der wirkliche Vorgang derjenige ist, 
für welchen das über diese Zeit erstreckte Integral einer gewissen 
Größe, der sogenannten Lagrangeschen Funktion, den kleinsten Wert 
besitzt. Kennt man also den Ausdruck der Lagrangeschen Funktion, 
so läßt sich der Verlauf des wirklichen Vorganges vollständig an- 
geben. 
Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß die Entdeckung dieses Ge- 
setzes, des sogenannten Prinzips der kleinsten Wirkung, nach wel-
	        
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