Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

   
  
  
Determinismus oder Indeterminismus? 119 
Entwicklung ist zwangsläufig, an ihm wird keine Macht der Welt 
etwas ändern. ' 
Im übrigen ist zu beachten, daß die Forderung der Anschaulich- 
keit gar keinen bestimmten Inhalt hat. Denn was anschaulich ist oder 
nicht, läßt sich nicht von vornherein und für immer entscheiden. Ein 
jedweder Begriff, mag er noch so kompliziert und abstrakt sein, kann 
uns dadurch anschaulich werden, daß wir uns an ihn gewöhnen und 
mit der Zeit lernen, bequem und sicher mit ihm umzugehen. Das wird 
häufig dadurch erleichtert, daß wir uns für den Begriff ein passendes 
anschauliches Symbol schaffen und dieses Symbol immer wieder 
nach allen Richtungen durchdenken. So kann es kommen, daß ein 
neuentdeckter physikalischer Vorgang, der uns zuerst sehr unan- 
schaulich vorkommt, im Laufe der Zeit durch náühere Bekanntschaft 
und vielfache Gewóhnung den anschaulichsten Charakter annehmen 
kann. 
Noch vor hundert Jahren war ein elektrischer Strom etwas Selt- 
sames und sehr Unanschauliches. Heute operiert jeder Techniker, ja 
auch mancher talentvolle Schüler, mit den Begriffen Elektrischer 
Strom, Gleiehstrom, Wechselstrom, Drehstrom wie mit etwas Alltäg- 
lichem und bequemer noch als mit dem Begriff eines Flüssigkeits- 
stromes. Und so lernt auch der Theoretiker die von ihm durch not- 
gedrungene und mühsame Abstraktion geschaffenen Begriffe mit der 
Zeit immer näher kennen und mit ihnen nach Gutdünken hantieren. 
Mit welchem Erfolge, zeigen die zahlreichen Entdeckungen, welche 
gottbegnadeten Forschern durch die Anstellung von Gedankenexperi- 
menten gelungen sind, die dem Ungeübten àufterst unanschaulich vor- 
kommen müssen. Denken wir an Wilhelm Wien, welcher das nach 
ihm benannte berühmte Verschiebungsgesetz der Wärmestrahlung 
entdeckte durch die rein theoretische Berechnung der Farbenände- 
rung, die ein Lichtstrahl bei der Reflexion an einem bewegten Spiegel 
erleidet. Denken wir an Jacob Heinrich van't Hoff, welcher die für 
die physikalische Chemie fundamentalen Gesetze des osmotischen 
Druckes ableitete aus der Betrachtung der Kompression einer wässe- 
rigen Salzlösung mittels eines Kolbens, der für das Salz undurch- 
dringlich ist, aber das Wasser ungehindert hindurchtreten läßt. 
Denken wir an Emil Fischer, dem seine phantasiereichen, der Kunst- 
schlosserei entlehnten Gedankenbilder von speziellen Atomverket- 
tungen zur Aufspaltung wie auch zur Synthese hochkomplizierter 
Moleküle verhalfen. 
Ein Gedankenexperiment, das durch seine Originalität auch in wei- 
teren Kreisen Aufmerksamkeit erregte, war es, welches James Clerk 
Maxwell den statistischen Charakter des zweiten Hauptsatzes der 
Wärmetheorie erkennen ließ. Nach diesem Satz ist es unmôglich, in 
einem Körper von gleichmäßiger Temperatur ohne Aufwand von Ar- 
  
   
 
	        
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