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4 Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung
wegungen zu erklären sei. Aber auch hier zeigte sich Hoffnung; denn
das periodische System der Elemente schien mit. Deutlichkeit darauf
hinzuweisen, daß es schließlich nur eine Art Materie gibt; und wenn
auch die Proutsche Hypothese, daß der Wasserstoff diese Ur-
materie ist, sich einstweilen als undurchführbar erwies, weil die
Atomgewichte durchaus nicht ganze Vielfache des Wasserstoffatom-
gewichts sind, so blieb doch immer noch die Möglichkeit übrig, den
gemeinschaftlichen Baustein aller chemischen Elemente, das Uratom,
noch kleiner zu wählen und dadurch die Einheitlichkeit des Urstoffes
zu wahren.
Eine ernste Gefahr schien eine Zeitlang der atomistischen Theorie
von energetischer Seite her, aus der reinen Thermodynamik, zu er-
wachsen. Hatte man schon, wie oben hervorgehoben, erkannt, daß die
mechanische Naturauffassung durch das Energieprinzip keineswegs
gefordert wird, so führte der zweite Hauptsatz der Thermodynamik
und seine vielfachen Anwendungen, namentlich auf dem Gebiete der
physikalischen Chemie, zu einem gewissen Mißtrauen gegen die
Atomistik. Allgemeine Sätze, welche sich aus der reinen Thermo-
dynamik mit Leichtigkeit in voller Exaktheit und in ihrem ganzen
Umfange ergeben, wie z. B. die Gesetze der Verdampfungs- und
Schmelzwärme, des osmotischen Druckes, der elektrolytischen Disso-
ziation, der Gefrierpunktserniedrigung und Siedepunktserhöhung,
konnten mit den Vorstellungen der Atomistik nur mühsam und in
gewisser Annäherung abgeleitet werden, besonders auf dem Gebiete
der Flüssigkeiten und festen Körper, wo überhaupt die Atomistik
noch gar nicht recht eingeführt war, während die Methoden der
Thermodynamik alle drei Aggregatzustände mit gleicher Souveränität
beherrschten und gerade auf dem Gebiet der flüssigen Lösungen ihre
glänzendsten Erfolge erzielten. Vor allem aber machte die Irreversi-
bilität der natürlichen Vorgänge der mechanischen Naturauffassung
viel zu schaffen, denn in der Mechanik sind alle Vorgänge reversibel,
und es bedurfte der tiefgehenden Analyse und nicht minder des un-
beugsamen wissenschaftlichen Optimismus eines Ludwig Boltz-
mann, um die Atomistik mit dem zweiten Hauptsatz der Wärme-
theorie nicht nur zu versöhnen, sondern sogar die Grundidee des
zweiten Hauptsatzes durch die Atomistik erst verständlich zu machen.
Alle diese schwierigen Fragen wurden spielend überwunden, oder
vielmehr sie existierten überhaupt nicht für die Anhänger der reinen
Thermodynamik, welche die Zurückführung der thermischen und che-
mischen Energie auf mechanische gar nicht als Problem anerkannten,
sondern bei der Annahme verschiedenartiger Energien stehenblieben —
ein Umstand, der Boltzmann gelegentlich zu dem Stoßseufzer ver-
anlaßte, die kinetische Gastheorie scheine ihm aus der Mode ge-
kommen zu sein. Wenige Jahre später hätte er dies wohl nicht mehr