140 Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft
der Mensch, so weit er auch in der wissenschaftlichen Erkenntnis
fortgeschritten sein mag, immer das sich wundernde Kind bleiben
und muß sich stets auf neue Überraschungen gefaßt machen.
So sehen wir uns durch das ganze Leben hindurch einer höheren
Macht unterworfen, deren Wesen wir vom Standpunkt der exakten
Wissenschaft aus niemals werden ergründen können, die sich aber
auch von niemandem, der einigermaßen nachdenkt, ignorieren läßt.
Hier gibt es für einen besinnlichen Menschen nur zwei Arten der
Einstellung, zwischen denen er wählen kann: entweder Angst und
feindseliger Widerstand, oder Ehrfurcht und vertrauensvolle Hin-
gabe. Wenn wir unseren Blick auf die Summe des unsäglichen Leides
und der beständigen Zerstörung von Gut und Blut werfen, von denen
die Menschen seit unvordenklichen Zeiten stets heimgesucht werden,
so könnten wir versucht sein, den Philosophen des Pessimismus bei-
zupflichten, welche den Wert des Lebens verneinen und die Meinung
verfechten, dafs von einem dauernden Fortschritt, von einer Hóher-
entwicklung der Menschheit nicht die Rede sein kann, daß im Gegen-
teil eine jede Kultur, wenn sie einmal einen gewissen Hóhepunkt
erreieht hat, ihren Stachel gegen sich selber kehrt und sich ohne
Sinn und Ziel wieder vernichtet.
Läßt sich eine solche weitgehende Behauptung durch Berufung auf
die exakte Wissenschaft rechtfertigen? Diese Frage muß schon des-
halb verneint werden, weil die Wissenschaft für ihre Beantwortung
nicht zuständig ist. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus könnte
man ebensogut und vielleicht sogar mit noch mehr Recht die ent-
gegengesetzte Behauptung vertreten. Man müßte nur den Standpunkt
der Betrachtung etwas erweitern und nicht mit Jahrhunderten, son-
dern mit vielen Jahrtausenden rechnen. Oder will jemand im Ernst
bestreiten, daß der Homo sapiens während der letzten hunderttau-
send Jahre einen Fortschritt, eine Vervollkommnung erfahren hat?
Warum sollte diese Höherentwicklung nicht noch weitergehen, wenn
nicht in gerader Richtung, so doch in Wellenlinien?
Freilich: dem einzelnen ist mit solchen Überlegungen auf weite
Sicht nicht gedient, sie können ihm keine Hilfe in der Not, keine
Heilung seiner Schmerzen bringen. Diesem bleibt nichts übrig als ein
geduldiges Ausharren im Lebenskampf und eine stille Ergebung in
den Willen der höheren Macht, die über ihm waltet. Denn ein recht-
licher Anspruch auf Glück, Erfolg und Wohlergehen im Leben ist
niemandem von uns in die Wiege gelegt worden. Darum müssen wir
eine jede freundliche Fügung des Schicksals, eine jede froh verlebte
Stunde als ein unverdientes, ja als ein verpflichtendes Geschenk ent-
gegennehmen. Das einzige, was wir mit Sicherheit als unser Eigentum
beanspruchen dürfen, das höchste Gut, was uns keine Macht der
Welt rauben kann, und was uns wie kein anderes auf die Dauer zu