Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

  
22 Das Prinzip der kleinsten Wirkung 
deren Wert für die wirkliche Bewegung gleich Null werden soll. Man 
kann hier gleich zu Anfang von zwei verschiedenartigen Auffassungen 
ausgehen. Nach der einen bezieht man die charakteristische Größe 
auf einen einzelnen Zeitpunkt oder auf ein unendlich kleines Zeit- 
element, nach der anderen dagegen auf ein endliches Zeitintervall 
der Bewegung. Je nachdem man sich für die erste oder die zweite 
Auffassung entscheidet, gelangt man zu zwei verschiedenen Klassen 
von Variationsprinzipien. 
Zu der ersten Klasse gehört das Bernoullische Prinzip der 
virtuellen Verschiebungen, das d'Alembertsche Prinzip des Träg- 
heitswiderstandes, das Gaußsche Prinzip des kleinsten Zwanges, 
das Hertzsche Prinzip der geradesten Bahn. Alle diese Variations- 
prinzipien kann man als Differentialprinzipien bezeichnen, insofern 
sie das charakteristische Kennzeichen der wirklichen Bewegung in eine 
Eigenschaft der Bewegung verlegen, die für einen einzelnen Zeitpunkt 
oder ein Zeitelement Bedeutung hat. Für mechanische Systeme ist ein 
jedes von ihnen vollkommen áquivalent mit jedem anderen und mit den 
Newtonschen Bewegungsgesetzen. Aber sie leiden alle an dem Nach- 
teil, daf sie nur für mechanische Vorgünge einen Sinn haben und daß 
ihre Formulierung ein Eingehen auf die speziellen Punktkoordinaten des 
betrachteten Massensystems notwendig macht. Je nach der Wahl der 
Punktkoordinaten fällt ihre Fassung ganz verschieden und meisten- 
teils verhältnismäßig kompliziert und unübersichtlich aus. 
Von diesem Übelstand, der Unentbehrlichkeit spezieller mechani- 
scher Punktkoordinaten, kann man sich frei machen, wenn man das 
Variationsprinzip als Integralprinzip auffaßt, dadurch, daß man es 
von vornherein auf ein endliches Zeitintervall bezieht. Dann ist unter 
allen virtuellen Bewegungen die wirkliche Bewegung durch die Eigen- 
schaft ausgezeichnet, daß für irgendeine zulässige Variation von ihr 
ein gewisses Zeitintegral verschwindet. In den wichtigsten Fällen läßt 
sich diese Bedingung auch so aussprechen, daß für die wirkliche 
Bewegung ein gewisses Zeitintegral, welches als die Wirkungs- 
größe oder die Aktion der Bewegung bezeichnet wird, kleiner ist 
als für jede beliebige andere mit den vorgeschriebenen Bedingungen 
verträgliche Bewegung. Dabei ist für einen einzelnen materiellen 
Punkt die Aktion, nach Leibniz, gleich dem Zeitintegral der kine- 
tischen Energie, oder, was auf dasselbe hinauskommt, gleich dem 
Wegintegral der Geschwindigkeit. 
In dieser Fassung läßt sich das Prinzip der kleinsten Wirkung 
aussprechen, ohne auf irgendwelche speziellen Punktkoordinaten Be- 
zug zu nehmen, ja ohne überhaupt einen mechanischen Vorgang vor- 
auszusetzen; denn in seiner Formulierung spielt nur die Energie und 
die Zeit eine Rolle. Freilich kommt durch die Einführung des Zeit- 
integrals ein besonderer Umstand ins Spiel, der von jeher und auch
	        
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