Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

  
  
  
       
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
26 Das Prinzip der kleinsten Wirkung 
ausgesetzten Massenpunktes die kürzeste Verbindungslinie seiner 
Anfangs- und Endlage darstellt, nicht mehr, wenn die Bahn länger ist 
als die halbe Peripherie eines größten Kreises auf der Kugel. Über 
die halbe Peripherie hinaus dürfte also die göttliche Voraussicht 
nicht mehr zu wirken imstande sein. Noch schlagender ist die Berück- 
sichtigung des Umstandes, daß bei ,nichtholonomen* Systemen die 
virtuellen Bewegungen gar nicht einmal zu den móglichen Bewegungen 
gehóren, wodurch die Minimumbedingung ganz ihren Sinn verliert. 
Aber trotz alledem verdient doch wohl die unumstófliche histo- 
rische Tatsache im Auge behalten zu werden, daf? die feste Überzeu- 
gung von einem innigen Zusammenhang der Naturgesetze mit dem 
Walten einer hóchsten Intelligenz den eigentlichen Ausgangspunkt 
der Entdeckung des Prinzips der kleinsten Wirkung gebildet hat, 
und weiter, daß ein solcher Glaube, falls er nicht von vornherein in 
zu enge Schranken gepreßt wird, sich zwar gewiß nicht beweisen, 
aber auch ebenso gewiß niemals widerlegen läßt, Denn man wird 
schließlich jeglichen etwa auftauchenden Widerspruch immer wieder 
auf eine unzureichende Formulierung schieben können. 
J. L. Lagrang e war der erste, der dem Prinzip der kleinsten 
Wirkung eine korrekte Fassung gab (1760). Unter allen Bewegungen, 
die ein System von materiellen Punkten bei konstanter Gesamtenergie 
aus einer bestimmten Anfangslage in eine bestimmte Endlage brin- 
gen, macht die wirkliche Bewegung die Aktion zu einem Minimum. 
Die virtuellen Bewegungen müssen also dem Energieprinzip genügen, 
sie dürfen dagegen beliebige Zeit in Anspruch nehmen. Nach dieser 
Fassung ist die Bahn eines einzelnen Massenpunktes, ohne treibende 
Kraft, diejenige, auf der er mit konstanter Geschwindigkeit in der 
kürzesten Zeit sein Ziel erreicht. Dies ergibt als Bahnkurve eine 
Linie von kürzester Lànge, d. h. für einen freien Punkt eine Gerade. 
Spiter zeigten C. G. J. Jacobi und W. R. Hamilton, daß das 
' Prinzip noch ganz andere Fassungen zuläßt. Besonders wichtig für 
die Zukunft wurde die von Hamilton bevorzugte Formulierung, bei 
der die verglichenen virtuellen Bewegungen nicht konstante Gesamt- 
energie zu besitzen brauchen, aber statt dessen alle in der näm- 
lichen Zeit erfolgen müssen. Dann muß man aber die Aktion, die für 
die wirkliche Bewegung einen Minimalwert annimmt, nicht mehr aus- 
drücken durch das Maupertuissche Zeitintegral über die kine- 
tische Energie, sondern durch das Zeitintegral über die Differenz 
von kinetischer und potentieller Energie. In der Anwendung auf das 
obige Beispiel eines sich ohne treibende Kräfte bewegenden Massen- 
punktes ergibt dann das Prinzip als Bahnkurve unter allen möglichen 
Kurven diejenige, auf welcher der Punkt in einer bestimmten Zeit 
mit der kleinsten Geschwindigkeit sein Ziel erreicht, also wiederum 
eine Linie von kürzester Länge.
	        
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