Full text: Wege zur physikalischen Erkenntnis (Band 2)

    
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Das Prinzip der kleinsten Wirkung ; 27 
Bezeichnenderweise übte das Prinzip der kleinsten Wirkung, auch 
nachdem es durch Lagrange in der Mechanik vollständig legiti- 
miert worden war, anfangs keinen bedeutenden praktischen Einfluß 
auf den Fortschritt der Wissenschaft aus. Man betrachtete es mehr 
als eine mathematische Kuriosität, als ein interessantes, aber doch 
entbehrliches Anhängsel der Newtonschen Bewegungsgesetze. Noch 
im Jahre 1837 konnte es Poisson „nur eine unnütze Regel“ nennen. 
Erst als in den Untersuchungen von Thomson und Tait, 
G. Kirchhoff, C. Neumann, L. Boltzmann u. a. das Prinzip 
sich als ein für die Lósung hydrodynamischer und elastischer Pro- 
bleme vortrefflich brauchbares Werkzeug erwies, während die an- 
deren Methoden der Mechanik z. T. schwerfälliger arbeiteten, z. T. 
ganz versagten, bereitete sich ein Umschwung vor: man begann 
seinen heuristischen Wert zu schätzen. Thomson und Tait sagen 
darüber (1867): „Maupertuis’ berühmtes Prinzip der kleinsten 
Wirkung ist bis jetzt mehr als eine sonderbare und etwas verwir- 
rende Eigenschaft der Bewegung, denn als ein nützlicher Führer in, 
kinetischen Forschungen angesehen worden. Wir haben aber die feste 
Überzeugung, daß man demselben eine viel tiefere Bedeutung bei- 
legen wird, nieht nur in der abstrakten Dynamik, sondern auch in der 
Theorie mehrerer Zweige der Physik, die jetzt anfangen, dynamische 
Erklärungen zu erhalten.“ 
Allerdings zeigte es sich auch, daß man in der Anwendung des 
Prinzips, namentlich bei der Formulierung der den virtuellen Ver- 
schiebungen vorzuschreibenden Bedingungen, die größte Vorsicht 
üben muß, um nicht in Fehler zu verfallen. So genügt es z. B. bei der 
Anwendung auf die Bewegung fester Körper in einer reibungs- und 
rotationslosen Flüssigkeit im allgemeinen nicht, daß man Anfangs- 
lage und Endlage der festen Körper unvariiert läßt; man muß auch 
Anfangslage und Endlage aller Flüssigkeitsteilchen unvariiert lassen. 
Ein Versehen anderer Art machte H. Hertz, als er, in der Einlei- 
tung zu seiner Mechanik, das Prinzip der kleinsten Wirkung auf die 
Bewegung einer auf einer horizontalen Ebene rollenden Kugel an- 
wandte und dabei für die virtuellen Verschiebungen eine bei nicht- 
holonomen Systemen unzulässige Bedingung aufstellte. Um die Auf- 
klärung dieses Umstandes haben sich besonders O. Hölder und 
A. Voß verdient gemacht. 
Die eigentliche fundamentale Bedeutung des Prinzips der kleinsten 
Wirkung gelangte aber erst zu allgemeinerer Erkenntnis, als sich 
seine Anwendbarkeit auch auf solche Systeme zeigte, deren Mecha- 
nismus entweder überhaupt unbekannt oder doch so kompliziert ist, 
daß man an eine Zurückführung auf gewöhnliche Koordinaten nicht 
denken kann. Nachdem schon L. Boltzmann und später R. Clau- 
sius den nahen Zusammenhang des Prinzips mit dem zweiten Haupt-
	        
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