62 Die Physik im Kampf um die Weltanschauung
für sinnlos zu erklären, als einer Aufgabe nachzuspüren, die durch
direkte Messungen gar nicht gelöst werden kann? Wer so spricht,
der unterschätzt die Bedeutung der Theorie. Denn die Theorie führt
uns in gewisser von vornherein gar nicht absehbarer Weise über die
direkten Messungen hinaus, vermittelst der sogenannten Gedanken-
experimente, die uns weitgehend unabhüngig machen von den Män-
geln der wirklichen Instrumente.
Nichts ist verkehrter als die Behauptung, ein Gedankenexperiment
besitze nur insofern Bedeutung, als es jederzeit durch Messung
verwirklicht werden kann. Wenn das richtig wire, so wiirde es z. B.
keinen exakten geometrischen Beweis geben. Denn jeder Strich,
den man auf dem Papier ziehen kann, ist in Wirklichkeit keine
Linie, sondern ein mehr oder weniger schmaler Streifen, und jeder
gezeichnete Punkt ist in Wirklichkeit ein kleinerer oder größerer
Fleck. Trotzdem zweifeln wir nicht an der strengen Beweiskraft geo-
metrischer Konstruktionen. /
Mit dem Gedankenexperiment erhebt sich der Geist des Forschers
über die Welt der wirkliehen Mefbwerkzeuge hinaus, sie verhelfen
ihm zur Bildung von Hypothesen und zur Formulierung von Fragen,
deren Prüfung durch wirkliche Experimente ihm den Einblick in neue
gesetzliche Zusammenhänge eröffnet, auch in solche Zusammenhänge,
welche einer direkten Messung unzugänglich sind. Ein Gedanken-
experiment ist an keine Genauigkeitsgrenze gebunden, denn Ge-
danken sind feiner als Atome und Elektronen, auch fällt dabei die
Gefahr einer kausalen Beeinflussung des zu messenden Vorganges .
durch das Messungsinstrument fort. Die einzige Bedingung, von der
die erfolgreiche Durchführung eines Gedankenexperimentes abhàngt,
ist die Voraussetzung der Gültigkeit widerspruchsfreier gesetzlicher
Beziehungen zwischen den betrachteten Vorgängen. Denn was man
als nicht vorhanden voraussetzt, darf man auch nicht zu finden
hoffen.
Gewiß ist ein Gedankenexperiment eine Abstraktion. Aber diese
Abstraktion ist dem Physiker, und zwar sowohl dem Experimentator
wie dem Theoretiker, bei seiner Forschungsarbeit ebenso unentbehr-
lich wie diejenige, daß es eine reale Außenwelt gibt. Denn ebenso
wie wir bei jedem Vorgang, den wir in der Natur beobachten, etwas
voraussetzen müssen, was unabhängig von uns verläuft, müssen wir
auf der andern Seite danach trachten, uns von den Mängeln unserer
Sinne und unserer Messungsmethoden möglichst zu befreien, und von
einer höheren Warte aus die Einzelheiten des Vorganges zu durch-
schauen. Diese beiden Abstraktionen sind gewissermaßen einander
entgegengesetzt. Der realen Außenwelt als Objekt steht der sie
betrachtende ideale Geist als Subjekt gegenüber. Beide lassen sich
nicht logisch deduzieren, und es ist daher auch nicht möglich, die-
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