84 Vom Wesen der Willensítreiheit
arbeitet und nach allen Richtungen ausfeilt, der aber jeden Versuch,
sie auf die Vorgánge in der Natur anzuwenden, als unberechtigt und
überflüssig zurückweist? Man würde ein solches Elaborat gar nicht
. ernst nehmen und darüber zur Tagesordnung hinweggehen. Aber in
der Ethik scheint man gegenwärtig keine so hohen Ansprüche zu
stellen. Wenigstens trifft man hier auf Autoren von bedeutendem
Ruf, denen es nicht einfállt, die Folgerungen aus ihrer Lehre, die
doch allgemeine Gültigkeit in Anspruch nimmt, für ihre eigenen
Handlungen zu ziehen.
Das gilt ganz besonders für diejenigen Ethiker, welche den Wert
des Lebens verneinen. Gewif) kann man angesichts des vielen Leides
und der vielen Ungerechtigkeiten, welche das Leben bringt, ernstlich
die Frage aufwerfen, ob nicht die Summe des Üblen und Traurigen
in der Welt die des Guten und Erfreulichen überwiegt. Und es mufi
gerade als eine der schwierigsten Aufgaben der Ethik erscheinen,
inmitten der beklagenswerten Zerrissenheit der Verhältnisse in
unserer gegenwärtigen Kulturwelt, der unerquicklichen haßerfüllten
Kämpfe der Interessen und Meinungen, der vielfach trostlosen Zu-
stände, die wir ringsum antreffen, durch ihre Richtlinien denjenigen
festen Halt zu schaffen, der uns in unserer Lebensführung die
dauernde Übereinstimmung mit dem eigenen Ich, den inneren Frie-
den, gewährleistet. Diese Schwierigkeit wird auf die einfachste
Weise als solche aus der Welt geschafft, wenn man den Wert des
Lebens verneint und damit den Kampf um seine Erhaltung und Be-
reicherung für sinnlos erklärt. Dann darf man aber nicht vergessen,
daß es, um eine auf diese Voraussetzung gegründete Ethik zu recht-
fertigen, kein anderes Mittel gibt als den Nachweis, daß sich aus
ihr eine brauchbare Richtschnur für das Verhalten im wirklichen
Leben herleiten läßt. Das haben wohl auch die alten indischen Wei-
sen empfunden, als sie, von der Wertlosigkeit aller irdischen Güter
durchdrungen, durch strenge Zurückgezogenheit von der Außenwelt
und durch tiefste Selbstversenkung sich von den Bedürfnissen ihres
Lebens nach Möglichkeit unabhängig zu machen bemüht waren.
In groteskem Gegensatz dazu findet man in der neueren Zeit ge-
rade unter denjenigen Ethikern, welche die Lebensverneinung zum
Programm ihrer Weltanschauung machen, ganz besonders aktive und
gewiegte Lebenskünstler. Die naheliegende Frage, von welchen ethi-
schen Gesichtspunkten sich diese vielseitigen Leute bei ihren Hand-
lungen denn nun eigentlich in Wirklichkeit leiten lassen, bleibt un-
erörtert. Wie erklärt sich dieser auffallende Widerspruch? Sollten
diese Forscher im Grunde ihre eigene Lehre gar nicht ernst nehmen
und sie nur als ein geistvolles, interessant anmutendes Gedankenspiel
bewerten? Das wäre ungefähr der schlimmste Vorwurf, den man
einem Philosophen machen kann. — Ich glaube, daß man eine näher-