86 Vom Wesen der Willensfreiheit
in unserem sittlichen . Handeln bestimmten, uns selber freilich im
Augenblick unmöglich erkennbaren Kausalgesetzen unterworfen sind,
ist nicht nur für die wissenschaftliche Erkenntnis von Bedeutung,
sondern kann uns auch im praktischen Leben wertvolle Dienste lei-
sten, wenn wir uns bemühen, Handlungen, die wir begangen haben,
hinterher, so gut es eben geht, vom kausalen Gesichtspunkt aus zu
begreifen, besonders in solchen Füllen, wo uns die Handlung nach-
trüglich leid tut, wegen übler Folgen, die sie unerwarteter- und un-
beabsichtigterweise nach sich gezogen hat. Wir kónnen dann hàáufig
aus der Erkenntnis des kausalen Zusammenhangs die Einsicht
schópfen, die uns nótig ist, um in spáter vielleicht einmal eintreten-
den ähnlich gearteten Fällen die gemachten Fehler zu vermeiden und
keine neuen zu begehen.
Freilich wird durch nachträgliches Analysieren der Ursachen feh-
lerhafter Handlungen weder der entstandene Schaden ersetzt noch
die Unzufriedenheit behoben, ja es ist in gewisser Hinsicht sogar
gefährlich, sich allzulange und allzutief zu versenken in Betrachtun-
gen von bedauerlichen Ereignissen, die nun einmal geschehen und
nicht mehr zu ändern sind. Aber andererseits kann es uns doch
häufig eine merkliche Erleichterung gewähren und zu einer Milde-
rung des Verdrusses beitragen, wenn wir uns nachträglich klar-
machen können, daß unter den damaligen Umständen, bei unserer
damaligen Gemütsverfassung und den vorliegenden äußeren Ein-
flüssen für uns gar keine anderen Motive entscheidend sein konnten
als gerade diejenigen, die unsere Handlung herbeigeführt haben.
Wird dadurch auch an den tatsächlich eingetretenen bedauerlichen
Folgen nichts geändert, so stehen wir doch dem Ablauf der Dinge
ruhiger gegenüber und ersparen uns namentlich das Bittere und
unaufhörlich Nagende der Selbstvorwürfe, mit welchen sich manche
Menschen in solchen Fällen ihr ganzes Leben hindurch quälen.
Es kommt aber hier noch ein Weiteres hinzu. Wenn wir beim
Zurückblicken auf ein von uns als unliebsam empfundenes Ereignis
uns ehrlich bemühen, über alle Folgen desselben im einzelnen ins
klare zu kommen, so können wir wohl einmal zu der Entdeckung ge-
führt werden, daß ein Ereignis, das wir früher als ein Unglück be-
klagten, durch seine Folgen in Wirklichkeit zu unserem Vorteil aus-
geschlagen ist, etwa dadurch, daß es nur ein für einen höheren Ge-
winn gebrachtes Opfer darstellt, oder daß wir dadurch vor einem
noch größeren Unglück bewahrt geblieben sind; dann wird vielleicht
unser Bedauern in Befriedigung und Freude über das Ereignis ver-
kehrt werden. In dieser Hinsicht hat der volkstümliche Spruch: „Wer
weiß, wozu es gut ist“, seine tiefe Bedeutung. Und wir können nie-
mals wissen, ob nicht solche erfreuliche Folgen vielleicht erst zu-
künftig noch uns offenbar werden. Ja, grundsätzlich steht gar nichts