90 Religion und Naturwissenschaft
Eine Zeitlang konnte mancher noch eine gewisse Beruhigung darin
finden, daß er einen Mittelweg einzuschlagen versuchte und sich auf
die Anerkennung einiger weniger als besonders wichtig geltender
Wunder beschränkte. Aber auf die Dauer ist eine solche Stellung
doch nicht zu halten. Schritt für Schritt muß der Glaube an Natur-
wunder vor der stetig und sicher voranschreitenden Wissenschaft
zurückweichen, und wir dürfen nicht daran zweifeln, daß es mit ihm
über kurz oder lang zu Ende gehen muß. Schon unsere heute: heran-
wachsende Jugend, die ohnehin bekanntlich den aus der Vergangen-
heit überlieferten Anschauungen vielfach ausgesprochen kritisch
gegenübersteht, läßt sich durch Lehren, die ihr naturwidrig erschei-
nen, nicht mehr innerlich binden. Und gerade die geistig hervor-
ragend Begabten unter der Jugend, die für spätere Zeiten zu Führer-
stellungen berufen sind, und bei denen nicht selten eine tief bren-
nende Sehnsucht nach religiöser Befriedigung anzutreffen ist, wer-
den durch solche Unstimmigkeiten am empfindlichsten betroffen und
haben, sofern sie aufrichtig nach einem Ausgleich ihrer religiösen
und ihrer naturwissenschaftlichen Anschauungen suchen, darunter
am schwersten zu leiden. ;
Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn die
Gottlosenbewegung, welche die Religion als ein willkürliches, von
machtlüsternen Priestern ersonnenes Trugbild erklärt und für den
Írommen Glauben an eine hóhere Macht über uns nur Worte des
Hohnes übrig hat, sich mit Eifer die fortschreitende naturwissen-
schaftliche Erkenntnis zunutze macht und im angeblichen Bunde mit
ihr in immer schnellerem Tempo ihre zersetzende Wirkung über die
Vólker der Erde in allen ihren Schichten vorantreibt. Daf} mit ihrem
Siege nicht nur die wertvollsten Schätze unserer Kultur, sondern,
was schlimmer ist, auch die Aussichten auf eine bessere Zukunft der
Vernichtung anheimfallen würden, brauche ich hier nicht näher zu
erörtern,
So gewinnt Gretchens Frage an den Auserwählten ihrer Liebe und
ihres Vertrauens auch für jeden, dem daran liegt zu wissen, ob der
Fortschritt der Naturwissenschaften wirklich den Niedergang echter
Religion zur Folge hat, eine tiefernste Bedeutung.
Wenn wir uns nun Fausts ausführliche, mit aller Vorsicht und
allem Zartgefühl vorgetragene Antwort vor Augen halten, so dürfen
wir sie uns hier aus einem doppelten Grunde nicht unmittelbar zu
eigen machen: einmal ist zu bedenken, daß diese Antwort nach
Form und Inhalt auf die F assungskraft des ungelehrten Mädchens
zugeschnitten ist und daß sie demgemäß nicht sowohl auf den Ver-
stand als auf das Gemüt und die Einbildungskraft wirken soll; dann
aber, was entscheidender ins Gewicht fällt, muß beachtet werden,
daß hier der von Sinnenlust getriebene und mit Mephistopheles im