34 B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
Exemplaren sich vor dem Verleihen Abschriften anfertigte, so bildete sich für die
Benutzung der Bücher in der Bibliothek eine Maßregel aus, deren Spuren wir noch
heute an vielen alten Büchern erkennen und die vielleicht in einzelnen alten Biblio-
theken noch heute herrscht: das sogenannte Anketten der Bücher.!)
Das eigentliche System der inneren Einrichtung der größeren Bibliotheken im
früheren Mittelalter war ziemlich allgemein das Pultsystem, derart, daß die Bücher
flach an der Stelle lagen, wo sie gleich eingesehen werden konnten. Wohl nicht ursprüng-
lich aus Furcht vor Entwendung, die bei den vielen massigen Folianten nicht so sehr
in Betracht kam, sondern wohl zunächst um eine Unordnung zu verhindern, erhielten
die Bücher am Deckel einen eisernen Ring, durch den eine Kette gelegt wurde, die
wiederum an einer am Pulte entlang laufenden Eisenstange befestigt werden konnte.
Erst später bei der allmählichen Vergrößerung der Bibliotheken kamen die Regale
auf, in denen die Bücher gleichfalls oft angekettet aufrecht. standen, und aus denen
sie behufs Benutzung auf das Lesebrett hinauf oder hinunter gelegt werden konnten.
Die Aufstellung in den Schránken geschah bald mit dem Rücken bald mit dem Schnitt
des Buches nach außen, und davon hängt es ab, ob der Titel des Buches auf dem Rücken
oder auf dem Schnitt, wie es sich gleichfalls findet, angebracht wurde; bei flach auf
dem Pulte aufliegenden Bánden war die Anbringung des Titels am unteren Schnitt
nicht ganz ungebràuchlich.
Der gewöhnliche Name für die Bibliothek im Mittelalter lautet bald armarium
oder almarium (Almer) nach dem Einrichtungsstück, bald librarium, liberaria (liberey)
mit mannigfachen lokalen Varianten.?)
Der Sorgfalt für die Bücher entspricht in den Klöstern und. Kirchen die Umsicht
und Vorsicht, mit der das urkundliche Material verwahrt wurde, bei dem doch auch
der praktische Wert sehr in die Wagschale fiel. Dessen Aufbewahrungsort war die
Bibliothek, die Sakristei oder sonst ein gut gesicherter Raum, vielleicht auch eigene
für diesen Zweck errichtete Gebáude.? Die ungeheure Menge erhaltener Urkunden
beweist, daf) die von Karl dem Kahlen den Bischófen im Jahre 869 gegebene Mahnung,
die den Kirchen von den Püpsten und Koónigen verliehenen Privilegien sorgsamst
aufzubewahren, überall auch in späterer Zeit befolgt wurde.*) Zur Sorge für die Er-
haltung der Urkunden gehört es, daß sie vielfach abgeschrieben wurden, daraus die
große Menge Kopial- und Urkundenbücher entstand. Die Archive der Klöster und
sonstiger geistlicher Korporationen galten im Mittelalter für so zuverlässig, daß häufig
fürstliche und private Personen ihren Urkundenschatz daselbst verwahrten.)
Denn auf weltlichem Gebiete war die Ausbildung von Bibliotheken und Archiven
sporadischer und vor allem ohne jede Kontinuität. In karolingischer Zeit besaß zwar
Aachen sowohl ein Reichsarchiv, das archivum (armarium) palatii oder publicum
archivum, als auch eine eigentliche Hofbibliothek. Aber welch geringe Bedeutung
dieser letzteren Institution für die Allgemeinheit noch zugeschrieben wurde, charak-
terisiert die Tatsache, daB Karl der Grofle selber in seinem Testamente die Verfügung
traf, die Bücher zu verkaufen und den Erlós für die Armen zu verwenden. Unter
Ludwig dem Frommen und unter Karl dem Kahlen bestanden gleichfalls Palastbiblio-
1) Eine bis heute erhaltene Kettenbibliothek findet sich nach CrARxs eingehender Beschrei-
bung S. 147ff. in Zütphen in Holland; über spátere Beispiele von Bibliotheken mit Kettenbüchern
s. daselbst S. 261ff. Über eine eigentümliche Art der Aufbewahrung der Bücher in irischen Klóstern,
in Felleisen oder Büchertaschen und in Buchkásten vgl. ZBBW XXVI (1909), 558.
2) Vgl. WarTENBACH, Schriftwesen, 617 ff,
3) Vgl. SIckEL, Acta regum et imperatorum, S. 9, 10.
4) ,Episcopi privilegia Romanae sedis et regum praecepta ecclesiis suis confirmata vigili
solertia custodiant." Ibid.
T M 5) Vgl. hierüber neben WATTENBACH, Schriftwesen, S. 627ff. auch BRESSLAU, Urkundenlehre
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