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Herrschaft unterworfen. Mit dem Fall der
alten griechischen Handelsstadt Korinth wird
das Schicksal jener Welt besiegelt, die erfüllt
und getragen war von der freien geistigen
Lebensform des griechischen Menschen. Es
beginnt eine neue, die rómische Weltzeit. Es
dauert freilich noch rund hundert Jahre, bis
alle politischen und sozialen Spannungen aus
deglichen sind. Sulla und Caesar, Pompejus
und Antonius kommen und gehen über die
Weltbühne, erobernd und festigend, herr:
schend und befriedend. Dann nimmt Augustus
das Schicksal der Welt in seine festen, zarten
2. Rómisches Didrachmon aus Capua Hände und gründet das Reich. Nun ist die
| Welt römisch geworden.
Als dreihundert Jahre früher Alexander der Große die Welt unterwarf, hatte
das Griechentum seine eigentliche geschichtliche Leistung schon vollbracht und
hatte seine Blütezeit hinter sich. Alexander streute den reichen Samen der grie-
chischen Frucht über die Erde. Überall sprossen junge Griechenstädte auf. Unter
dem belebenden Hauch griechischen Geistes erwachten alte und junge Völker. Das
Gesicht der Welt empfing den Abglanz jenes Lichtes, das von Griechenland aus-
ging. Was empfing aber die Welt, als sie römisch wurde?
Die Griechen hatten die chthonischen Mächte und magischen Bindungen ihrer
eigenen Frühzeit, der mediterranen Vorzeit und ihrer östlichen Nachbarn über:
wunden. Sie hatten an die Stelle dumpfer Naturgebundenheit einen geistigen Kos-
mos gesetzt. Sie hatten über sich Götter anerkannt, welche die Kräfte des Seins als
geistige Mächte darstellten, welche zugleich als Natur und Geist wirkend in Er-
scheinung traten. In der Kunst erfuhren die Griechen das Walten des Seins. Kunst
war für sie das Zeichen ihrer geistigen Selbstbehauptung, war für sie eine Lebens:
notwendigkeit. In der Kunst gestalteten die Griechen ihr Schicksal. Im Bilde grofier
Kunst erhoben sie ihr Dasein zur überzeitlichen Gestalt. Befreit von der Einmalig-
keit des Geschehens in der Zeit, ist die griechische Kunst das Bild natürlichen und
doch unvergànglichen Seins von Menschen und Göttern. Was bedeutete dagegen
den Römern die Kunst? Kann man überhaupt in gleichem Sinne von einer römischen
wie von der griechischen Kunst sprechen?
Die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der römischen Kunst ergibt sich
aus der Betrachtung ihrer Geschichte.
Aus der ersten Zeit derrömischen Republik nach der Vertreibung der
etruskischen Könige stammt die berühmte kapitolinische Wolfin (Abb. 1). Unheim:
lich und schreckhaft blickt das wilde Tier mit weit aufgerissenen Augen und bleckt
drohend seine Zähne aus halb geôffnetem Maule. Nicht geduckt zum Sprung, nicht
im verhaltenen Angriff, sondern die Vorderbeine starr in den Boden gestemmt, die
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