Full text: Die anorganischen Nahrungstoffe. Die Bedeutung des physikalischen Zustandes der Zell- und Gewebsinhaltsstoffe für ihre Funktionen. Die Fermente, ihr Wesen, ihre Wirkung und ihre Bedeutung. Probleme des Gesamtstoff- und -kraftwechsels. Stoff- und Kraftwechsel einzelner Organe und Zellen (2. Teil)

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72 V. Vorlesung. 
gründliche Kenntnisse dér Grundgesetze der physikalischen. 
Chemie undenkbar. Wir mógen, welches Problem wir wollen, anfassen, 
überall stoüen wir auf Vorgàánge, die physikalisch-chemischer Natur sind, 
ob wir nun Stoffwechselvorginge oder das Problem der Muskelkontraktion 
oder die Frage der Erregbarkeit, der Reizleitung usw. erörtern, überall 
taucht das Problem nach den den gemachten Beobachtungen entsprechenden 
feineren Vorgängen auf. Chemische, physikalische und physikalisch- 
chemische Vorgänge lassen sich nicht trennen! Für die Forschung 
ist die Spezialisierung auf möglichst eng begrenzte Fragestellungen immer 
von dem größten Erfolge gewesen, für das Studium bestimmter Funktionen 
und Erscheinungen jedoch ist es notwendig, alle Gesichtspunkte und Kennt- 
nisse zu berücksichtigen, die in Frage kommen. Nichts hat die Verwertung 
der Forschungsergebnisse so gehemmt, wie der Versuch, irgend eine Vor- 
stellung oder Erklärungsart in einseitiger Weise zu verallgemeinern, um 
so diesem oder jenem Forschungsgebiet eine ganz besondere Bedeutung 
zu geben. Zur Erklärung der Zellvorgänge müssen wir alle uns zur Ver- 
fügung stehenden Erkenntnisse, mögen sie mit welchen Methoden und 
Forschungsarten gewonnen sein, als sie mögen, heranziehen. Wesentlich 
ist, daß mit. großer Vorsicht die Grenzen zwischen den tatsächlichen Be- 
funden und den nur auf dem Wege von Analogieschlüssen erschlossenen 
Vorstellungen gezogen werden. Wir dürfen nie aufer acht lassen, dal der 
Versuch im Reagenzglas in absehbarer Zeit nicht imstande sein wird, uns 
die Leistungen in Geweben und Zellen wiederzugeben. Wir kónnen im 
Laboratorium immer nur Einzelvorgánge studieren. Unser Bestreben dabei 
ist, möglichst einfache Verhältnisse zu. schaffen. Erst dann, wenn wir alle 
Bedingungen beherrschen und eindeutig feststellen können, daß die Ver- 
änderung einer Bedingung wirklich ausschließlich diese eine betrifft, sind 
klare Schlußfolgerungen. möglich. In den Zellen und Geweben haben wir 
im Gegenteil unendlich mannigfaltige Bedingungen und Vorgänge, die alle- 
untereinander in Abhängigkeit stehen und wieder die Vorbedingungen 
für andere Reaktionen schaffen. Die große Fülle von Erscheinungen im 
Zelleben ist es, die es uns so schwer macht, Gesetzmäßigkeiten aufzufinden 
und jedem Vorgang bis in alle seine Einzelheiten zu folgen. Es bleibt 
uns nichts anderes übrig, als Einzelvorgänge für sich zu betrachten und 
für sie im Reagenzglasversuch eine Analogie zu suchen, wobei wir immer 
des Umstandes eingedenk bleiben müssen, daß die Bedingungen, unter 
denen. sich die Vorgänge vollziehen, von entscheidender Bedeutung für 
ihren Verlauf in allen seinen Einzelheiten sind. 
Es ist hier nicht der Ort, die so auf)erordentlich wichtigen Ergeb- 
nisse der physikalisch-chemischen Forschung in ihrer Gesamtheit darzu- 
stellen. Wir müssen uns damit bescheiden, diejenigen Befunde zu berühren, 
die bereits jetzt bestimmte Rückschlüsse auf Zellvorgánge zulassen. Nur 
streifen wollen wir den Gedanken, daß die Vorstellungen, die.uns die 
neueren Forschungen über den Bau der Atome gebracht haben, sicherlich 
auch für das Verstàndnis mancher Zellvorgünge ganz neuartige Gesichts- 
punkte bringen werden.?) 
1) Vgl. u. a. W. Kossel: Annalen der Physik [4], 49. 229 (1916). — Derselbe: 
Physikalische Natur der Valenzkráfte. Naturwissensch. 7. 339 (1919). — 4. E. Lacomblé : 
Journ. f. physikal. Chemie. 93. 257 (1919). — Jean Perrin: Annal. de Physique. [9]; 
11. 5 (1919). ; 
  
	        
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