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Formgefühl der alten Meister, das bei aller Naivität doch ein so klares Zweck-
bewusstsein bekundet. Damals verstand es sich eben ganz von selbst, dass der
Zimmerling kein Langholz in das Fachwerk der Vorderwand einzog, ohne das-
selbe mit einem Spruche zu zieren, keinen Querbalken in die Verkämmung ein-
liess, ohne aus dem überspringenden Kopfstück eine Fratze oder einen Tierkopf
oder reiches Blattwerk herauszuschnitzen, wie er es auf der Wanderschaft im
fernen Süden erlernt hatte. Da liess es sich der Meister Schlosser nicht nehmen,
die Hausthür durch Angelbänder mit reichem Ranken-Zierrat zu schmücken und
den Thürrahmen durch aufgeschlagene Nagelrosetten und den kunstvoll gearbei-
teten Thürklopfer sprechenden Ausdruck zu verleihen. Da betrachtete der Glaser-
meister die Fenster nicht als Löcher in der Architektur, sondern er fügte durch
mannigfaltiges Rahmenwerk und weichen Farbenglanz des Glases dieselben wohl-
vermittelt in den Plan des Ganzen ein. Und wie das Haus, so waren der Schrank,
die Truhe, das Schmuckkästlein, das Linnengedeck und das Tafelgerät. Ein in
behaglicher Musse schaffender Meister, der durch die Innungen in beständigem
Verkehr mit seinen Gesellen und Zunftgenossen blieb, hatte über alle diese Er-
zeugnisse, über ihren Zweck, wie über ihre Form und Zier nachgedacht und hatte,
dieweil er nach Feierabend über dem Unterflügel der Hausthür lehnte, zu alledem
sein Sprüchlein ersonnen“.
Für unseren Zweck kommen nun zunächst nur die Schmuckmittel in Be-
tracht, die dem Aufbau des Hauses selber zur Zierde dienen, die wir aber nicht
von dem Standpunkte des Kunstgeschichtsforschers, sondern von demjenigen des
praktischen Bautechnikers aus betrachten wollen.
Mithin beschränken wir von vornherein deren Vor- M Fig. 182.
führung nur auf solche Erscheinungen, die wir auch IM
für den modernen Holzbau wieder mit Erfolg ver-
werten kónnen. Die gewóhnlichste Form des Fas-
sadenschmuckes wird hier durch die Verschränkung
der Fachwerkshôlzer selber erreicht.
a) Verzierungen durch verschränkte Fach-
werkhólzer.
Wie gróssere Fachwerksfelder mit Vorteil durch
Anordnung von einfachen oder auch gekreuz-
ten Streben belebt werden kónnen, haben wir be-
reits in den Fig. 31 bis 34, 93, 95, 147 veran-
schaulicht.
An französischen Fachwerksbauten aus der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sehen wir auch
die Wandstiele selber durch engere Anordnung zu
solcher Flächenbelebung herbeigezogen. Fig. 181
(Haus in Beauvais nach Berty, Renaissance monu-
mentale en France). Dasselbe findet sich auch an
modernen englischen Fachwerksbauten (Fig. 100)-
An den süddeutschen und rheinländischen Holz-
bauten. schweifte man in der Renaissancezeit die
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