Full text: Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der deutschen Arzneipflanzen

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XII. 
Für diese letzte Vorlesung bleibt uns nur noch die Familie der Kompositen 
zu besprechen. Sie bietet ein recht ausgiebiges Material, bei dem die, als wirk- 
sam anzusehenden, Bestandteile in Art und Zusammensetzung sehr wechseln 
und sich in dieser Hinsicht ähnlich verhalten, wie wir dies bei den Umbellaten 
schon kennen gelernt haben. 
Matricaria Chamomilla (Kamille) 
Als erste Vertreterin der Kompositen soll uns die Kamille, Matricaria 
Chamomilla, beschäftigen. Sie ist ein überall verbreitetes Ackerunkraut 
und von den vielen, ihr ähnlich sehenden, Pflanzenarten nicht schwer zu unter- 
scheiden. Bis etwa 30 Zentimeter hoch werdend, blüht sie vom Juni bis in den 
August hinein. Die Strahlblüten sind weiß, die Blütenscheibe selbst ist gelb. 
Der, die Blütenscheibe tragende, walzig kegelförmige Fruchtboden ist inwendig 
hohl, bleibt auch bei der getrockneten Pflanze hohl und gibt damit ein sehr 
wertvolles Erkennungs- und Unterscheidungsmittel. Die lateinische Benennung 
der Kamille verdient eine kurze Bemerkung. Matrix ist die alte Bezeichnung 
für den Uterus. Es müßte danach also die Kamille zu deutsch eigentlich Mutter- 
kraut heilen. Das Wort Chamomilla ist aus dem Griechischen: yopal pHAov 
gebildet, würde also eigentlich heißen: ein niedrig, am Boden wachsender 
Apfel. Diese etwas auffällige Benennung gründet sich auf den sehr angenehmen 
und intensiven Geruch, den die frische Kamille, besonders beim Zerreiben in 
der Hand, ausgibt und der lebhaft an den Geruch feiner Apfelarten erinnert. 
Das Wesentliche in den offizinellen Kamillenblüten, Flores Chamomillae, 
ist ein ätherisches Öl, das, frisch dargestellt, tief blau gefärbt ist. 
Man hat sich in unseren Tagen daran gewóhnt, auf die Kamille mit einer 
gewissen Nichtachtung herabzusehen.  Berechtigt ist diese Geringschátzung 
der Kamille in der Tat aber nicht. Auch die einfachste Weise ihrer Anwendung, 
in Gestalt des Kamillentees, ist immer noch ganz etwas anderes wie lediglich 
heißes Wasser mit einigen gleichgiiltigen Pflanzenbestandteilen. Die Kamille 
wirkt in einer gut ausgeprägten Weise auf das Nervensystem ein, vermag aber 
auch auf anderen Gebieten sehr deutlich ausgesprochene Veränderungen her- 
vorzurufen. Will man sich zu ihrer therapeutischen Einschätzung lediglich 
auf den Tierversuch beschränken, so wird dabei allerdings nicht viel oder auch 
garnichts herauskommen. Was die Kamille im menschlichen Organismus zu 
leisten vermag, hat die ärztliche Erfahrung im Verlaufe eines Zeitraumes, der 
zahlreiche Menschenalter umfaßt, hinlänglich und einwandsfrei erwiesen. Voraus- 
setzung dabei ist allerdings, wie überall, daß sie am richtigen Ort und auf be- 
gründete Indikation hin angewandt wurde. Der, in der Arzneianwendung 
beliebte, Schematismus hat sich im Gebrauche der Kamille am Krankenbette 
‚ebenso nachteilig erwiesen, wie bei so vielen anderen Arzneimitteln auch. 
Die einzigen ausführlichen Beobachtungen über die Wirkung der Kamille 
auf, den gesunden. menschlichen Organismus, die wir besitzen, rühren her von 
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