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Zweit. Hauptabschn.: Entwickel, d. lat. Schrift. Acht. Kap.: Die Minuskelv.10.b.z.12.Jahrh. 89
Auch hierin stehen die Palastschule und die Kalligraphenschule von Tours, die
letztere erst seit den dreiBiger Jahren des 9. Jahrhunderts, im Vordergrunde. Jener
werden die prächtigen Evangeliare Karls d. Gr. inÿWien (Schatzkammer), Brüssel, ‚und
Aachen, dieser die Bibelwerke von Zürich, Rom (Vallicelliana) und Bamberg und, aus
einer späteren Periode, um die Mitte des 9. Jahrhunderts, die Londoner sogenannte
Alcuinbibel, das Pariser Lothar-Evangeliar und das glänzendste Beispiel, besonders
der Initialornamentik, die Bibel Karls des Kahlen zugewiesen.!) Nicht minder präch-
tige Werke flossen aus anderen westfränkischen Schreibschulen, Metz, Rheims, Orleans.
Die karolingische Kunst wirkte aber auch auf die entsprechende Tätigkeit in Italien,
Spanien und England, und als ein frühes Denkmal ziemlich roher Nachahmung karo-
lingischer Miniatur und Initialornamentik in einem deutschen Kloster gilt der Codex
millenarius (heute in Kremsmünster) aus dem 8. oder Anfang des 9. Jahrhunderts.
(Mon. graph. VIII, 7, 8.)
Der Einfluß der karolingischen Kunst der Buchmalerei auf Deutschland; tritt
aber erst in den folgenden Jahrhunderten in den verschiedenen hier aufblühenden Maler-
schulen glànzend zutage.
Achtes Kapitel: Die Minuskel vom 10. bis zum 12. Jahrhundert.
Dem Jahrhundert der Schrifüreform mit dem so überaus kraftvollen Hervor-
brechen einer einzigen Schriftweise, die bei aller Anspruchslosigkeit zufolge ihrer Ein-
fachheit, Klarheit und allgemeinen Verwendbarkeit den Kampf mit Majuskel, Kur-
sive und Nationalschriften siegreich zu bestehen berufen war, folgten Jahrhunderte,
in denen sich die Kreise dieser Schriftart, der karolingischen Minuskel, von dem Zentrum,
von dem die Umwàálzung ausgegangen war, langsam und stetig, aber unaufhaltsam er-
weiterten. Alles Schreiben in den im Bannkreise der lateinischen Sprache liegenden
Gebieten entwickelt sich fortan auf dieser Grundlage, eine einheitliche Basis war für
den weiteren Fortgang gewonnen. Unter solchen Verhältnissen konnten die nächsten
Jahrhunderte in der Schriftentwicklung vorzüglich Frankreichs und Deutschlands nur
den Charakter allmühliecher Ausgestaltung und Fortbildung des prinzipiellen Wesens
dieser Schriftart annehmen. Sie erhält denn zunächst auch keine besonderen Namen,
man spricht von Minuskel im allgemeinen oder von Minuskel des 10., 11., 12. Jahr-
hunderts im besonderen.?)
In Perioden, die unter dem Eindrucke eines so bedeutsamen Umschwunges
stehen, vollziehen sich Veränderungen im Schriftwesen um so langsamer und unauf-
fälliger und dringen neue Elemente und Ideen nur sehr allmählich durch. Dieser wenn
auch nur scheinbare Stillstand hat zur Folge, daB sich in solchen Zeitabschnitten die
Schwierigkeiten, die Schriftwerke nach Ort und Zeit ihres Ursprunges zu bestimmen,
besonders steigern; so wird denn auch in den paläographischen Werken mit Recht
1) Hier ist zu erwähnen das einzigartige paläographische Prachtwerk des Grafen AUGUSTE
DE BASTARD , Peintures et ornaments des manuscrits . . . pour servir à l’histoire des arts du dessin,
depuis le IVe siècle de l'ére chrétienne jusqu' à la fin du XVIe." Das Werk, 1832 begonnen, 1848
unterbrochen, blieb unvollendet; es erschienen 20 Lieferungen zu 8j Blättern (jede Lieferung zu
1800 Fres.), die insbesondere für die karolingische Kalligraphie die herrlichsten Beispiele darbieten,
Vgl. W. WATTENBACH, Das paläographische Prachtwerk des Grafen Bastard in NA. VIII, S. 449,
— Über das Wiener Evangeliar vgl. AgNETH in Denkschriften Wien. Ak. XIII, S.:85ff. Li
2) WATTENBACH bedient sich für die Schrift der ganzen nachkarolingischen Periode des Aus-
drucks „ausgebildete Minuskel“, SICKEL spricht gelegentlich von einer „nachkarolingischenMinuskel“,
PAOLI scheidet zwischen ,neukarolingischer“ (10. Jahrh.) und ,vollendeter Minuskel“, (11.5 und
12. Jahrh.); CHROUST verwendet für die Schrift des 11. und 12. Jahrh. die Bezeichnung‘, ‚Jüngere
Rundbogenminuskel‘