Zweiter Hauptabschn.: Entwickelung d. lat. Schrift. Neuntes Kap.: Die got. Periode usw. 95
Neuntes Kapitel: Die gotische Periode und der Übergang zur Neuzeit.
Das 13. bis 15. Jahrhundert.
Der Einschnitt, der in der Entwicklung der mittelalterlichen Schrift mit dem
13. Jahrhundert gemacht wird, ist in der neueren Literatur am bestimmtesten von
Paornr erklärt und begründet worden, ebenso wie die eigentümliche Bezeichnung,
die für die Schriftweise der letzten Jahrhunderte des Mittelalters in Übung ist.
Die gotische Schrift kann als eine dem gotischen Baustil parallel laufende Erscheinung
betrachtet werden, und in diesem Sinne ist gotisch synonym mit mittelalterlich über-
haupt, nicht ohne einen verüchtlichen Beigeschmack des Veralteten. Daf} eine Be-
ziehung mit der Schrift der Goten nicht bestehen kann, ist von WarTENBACH mit be-
sonderem Nachdruck hervorgehoben worden, wenn auch die Mauriner die Entstehung
des Namens auf diesem Wege zu erklären versucht haben. Neben der Bezeichnung
„gotische Schrift“ finden sich in älteren und neueren Werken andere: Mónchsschrift,
eckige, gegitterte Schrift.!)
Wie berechtigt es ist, dem Vorgang PAOLIS und anderer Paläographen zu folgen
und den Umschwung zu beachten, der sich in dieser Periode vollzieht, beweist vor allem
auch der Umstand, daß die Schreiber des 15. Jahrhunderts in dem Bestreben, die Schrift
zu erneuern, mit Übergehung der letzten Jahrhunderte zurückgriffen zu den Pracht-
werken des 12. Säkulums. Hier erblickten auch sie schon den Gipfelpunkt in der Ent-
wicklung der Minuskel, von wo aus trotz des Aufkommens neuer kalligraphisch glänzend
ausgebildeter Schriftweisen die rückláufige Bewegung einsetzt.
Diese neue Entwicklungsphase der mittelalterlichen Schrift bietet der palào-
graphischen Forschung weit größere Schwierigkeiten dar, als irgendeine vorhergehende.
Die schier erdrückende Fülle des Materials, die sich seit dem 13. Jahrhundert überall
entgegenstellt, erschwert die Übersicht; überall mischen sich heimische und fremde
Produkte, und die mannigfaltigsten Einflüsse wirken zusammen, um das so überaus
bunte Bild hervorzubringen, wie es sich bei der Betrachtung einer größeren Zahl von
Originalwerken oder beim Durchblättern paläographischer Sammlungen aus dieser Zeit
in Wirklichkeit zeigt.
Gegenüber dieser Buntheit und Verschiedenartigkeit des Schriftcharakters im
allgemeinen muB man daran festhalten, daB in der gotischen Periode eine zweifache
Schreibweise in Übung war, die man als reine gotische Minuskel und als gotische Kursive
zu bezeichnen pflegt.
§ 1. Die gotische Minuskel.
Die gotische Minuskel, mag sie nun mehr oder weniger kalligraphisch durch-
geführt sein, legt Gewicht auf Formenstrenge, Regelmäßigkeit und Deutlichkeit des
Schriftduktus, die gotische Kursive ist in jeder Hinsicht, was Buchstabengestalten,
Größendimensionen, Einhaltung des Linienschemas anlangt, freier und flüssiger.
Dort gilt als Prinzip wenigstens die Selbständigkeit des einzelnen Buchstaben im
Worte, hier zielt alles auf Verbindung der Buchstaben untereinander ab. Es ist der
Unterschied, den wir zwischen Buch- und Urkundenschrift in früheren Perioden zu
machen Gelegenheit hatten, oder der sich noch deutlicher im Gegensatz von Druck
und Schrift ausprügt.?) Aber in der gotischen Periode ist Kursivschrift nicht mehr auf
1) Vgl. PAorr Grundrifi S. 44ff., WarrENBACH, Anleitung S. 41.
2) TRAUBE spricht in gleichem Sinne vom Gegensatz zwischen Buch- und Bedarfsschrift.