Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

  
  
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B. Bretholz: Lateinische Palüographie, 
Urkunden und diesen verwandte Werke beschränkt. Minuskel und Kursive dienen 
in gleicher Weise der Erzeugung‘ von Buchwerken, und die Kursive der Bücher ist 
zumeist grundverschieden von der in Urkunden angewandten Schrift. 
In dem Wesen der Schriftarten liegt es begründet, daß Prachtwerke und Rein- 
schriften wohl ausschließlich in Minuskel angefertigt werden. Hier nehmen, wie auch 
in den früheren Perioden, die liturgischen Bücher den breitesten Raum ein; für sie 
bildet sich die gotische Schrift zumeist zu jener littera grossa seu psalterialis aus, die 
Konrad von Mure so scharf von der übrigen Schriftweise scheidet. Man kann sie an 
zahlreichen Beispielen in den paläographischen Werken verfolgen.!) Die Schrift ist 
hier von einer geradezu geometrischen Regelmäßigkeit, die Buchstaben sind groß, 
breit und stark, die Schaftbrechung, die Zieraten treten klar und deutlich hervor. 
Doch ist auch sie nicht beschränkt auf Werke des genannten Inhalts; besonders im 
14. Jahrhundert erscheint diese schöne und prunkvolle Schrift, bei der die Initialkunst 
außerordentlich reiche Anwendung findet, vielfach auch in fürstlichen und städtischen 
Kanzleien in Übung, bei Prachtcodices nicht nur literarischen, sondern mehr noch 
urkundlichen Inhalts, wie Rechtssammlungen, Stadt- und Registerbüchern. Zu dieser 
Art von Schriftwerken, die sich in den böhmischen und österreichischen Schreibschulen 
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts häufiger finden, gehört, um ein Beispiel anzu- 
führen, die Abschrift der Goldenen Bulle vom Jahre 1400, von der ARNDT-TANGL 
T. 28 ein^Blatt bietet. Und neben dieser Kunstschrift zeigen sich alle Übergänge 
von reinster kalligraphischer Buchschrift bis zur sorglosesten Kursive für alle Arten 
von Schriftwerken, die für das literarische oder geschäftliche Leben privat oder in 
Offizinen angefertigt wurden, in Anwendung. Deutlich erkennbare Unterschiede in der 
Schriftentwicklung der einzelnen Länder oder auch größerer Gebiete sind bis jetzt 
nur in bescheidenem Maße aufgehellt worden. Ganz allgemein bemerkt Paorr, daf 
in Deutschland und England ein spitzigerer und eckigerer Zug in der Schrift stárker 
hervortritt als in Frankreich und Italien (S. 49). Scuuw betont die Erscheinung, daß 
in Italien und den von dort abhängigen Gebieten Spaniens und Südfrankreichs die 
Behandlung der Schäfte gegenüber Deutschland und Nordfrankreich differiert: ent- 
weder werden die Striche noch stärker gebrochen oder sie werden scharf abgeschnitten 
und durch horizontale kleine Abstriche begrenzt.®) Die Provenienzbestimmung wird 
allerdings wie in früheren Perioden auch hier durch äußere Momente, Pergament, 
Tinte, Einband, sowie durch die oft vorkommenden Subskriptionen erleichtert. Weit 
schwieriger ist es, die markanten Veränderungen in der Schrift und in einzelnen Buch- 
stabenformen, das Auftauchen neuer Typen und charakteristischer Züge zeitlich und 
lokal zu bestimmen, obwohl auch nach dieser Richtung in den paläographischen Samm- 
lungen wertvolle Hinweise geliefert werden. 
Die gotische Minuskelschrift ist wesentlich charakterisiert durch die vollständige 
Durchführung der Brechung bei Schäften und Bogenlinien. Eine Vereinfachung der 
Schrift?wurde hierdurch gewiD nicht erreicht, aber schon die allmihliche Ausbildung 
dieser Erscheinung beweist, daß man es nicht mit einer absichtlichen Reform, sondern 
mit einer naturgemäßen Entwicklung zu tun hat. Es ist ein Grundzug in der Schrift- 
1) Ich verweise auf dasjWürzburger Lektionar und Psalter saec. XIII (Mon. pal. X, 5, 6, 7) 
im Vergleich zu dem englischen*Lektionar von 1267 (Pal. Soc. 113 und Tnow?sox S. 274). 
2) Auffallend gleichen Schrifteharakter zeigen die Iglauer Rechtsbücher, die zum gróften 
Teile von Johannes von Gelnhausen geschrieben sind; s. Z. f. d. Gesch. Máührens und Schlesiens, 
VII (1903), S. 1ff. Faksimile. 
3) Vgl. GrundriB der roman. Philologie hrg. von GRÖBER I, 175. SCHUM hat das Verdienst, 
durch seine ,Exempla*cod. Amplon.“ vorzüglich die Schriftentwicklung des 12. bis 14. Jahrh. lehr- 
reich dargestellt zu haben. Es ist ein empfehlenswerter Behelf, um an charakteristischen Beispielen 
die Schriftmannigfaltigkeit dieser Periode kennen zu lernen. 
   
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