Full text: Lateinische Paläographie (Band 1, Abtlg. 1)

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Zweiter Hauptabschn.: Entwickelung d. lat. Schrift. Neuntes Kap.: Die got. Periode usw. 97 
bildung seit der karolingischen Periode, da sich die früher spitz nach links auslaufenden 
Schäfte bei den Buchstaben mit Mittel-, Ober- und Unterlängen allmählich gerade 
stellen, abschrägen, nach rechts biegen und brechen. Neben dieser Eigentümlichkeit 
treten noch zwei andere in dieser Schriftart hervor. Die gleichfalls schon seit Jahr- 
hunderten wahrgenommene Neigung, die Schüfte durch Ansatz- und Abschluflinien 
abzugrenzen, wird in der gotischen Minuskel bei kalligraphischer Ausführung ein 
charakteristisches Ornament, indem solche feine Strichlein auch an den im Schafte 
durch die Brechung entstandenen Ecken sich ansetzen (1), anderseits ein Behelf, zwischen 
den Buchstaben eines Wortes Verbindung herzustellen, was besonders in der Kursiv- 
schrift weittragende Bedeutung erlangt. Diesem Gedanken, die Buchstaben mitein- 
ander in näheren Zusammenhang zu bringen, entspringt ferner die in der gotischen 
Minuskel so häufig und fast gesetzmäßig auftretende eigenartige Buchstabenverbindung.!) 
Die in den Schriftwerken der Minuskel seit der Zeit Karls des GroBen auftretende Ligatur 
zwischen o und gekrümmtem r (09) hat zur Folge gehabt, daß allmählich diese r-Form auch an 
alle anderen Buchstaben mit Bogen angelehnt wurde; ferner, daf auch andere Buchstaben, von 
denen der erste mit einem Bogen schlof, der andere mit einem Bogen anhob, aneinander geschoben 
wurden, so zwar, daB der beiden Buchstaben gemeinsame Bogenteil nur einmal gemacht erscheint; 
schließlich aber werden auch Schaft und Bogen bei bestimmten Buchstaben ineinander gezogen. 
Der Grund für diese Erscheinungen liegt aber nicht, woran zunächst in Erinnerung an die Ligaturen 
der Majuskel gedacht werden kann, in dem Streben nach Raumersparnis, sondern entspringt dem 
Verlangen, wie die Schaftbuchstaben durch Auslaufstriche, Zungen und Balken, so auch die 
bauchigen Lettern untereinander zu verbinden. Den Ursprung dieser Neuerung sucht man in 
Italien oder Frankreich. 
Was die für die Schriftentwicklung von der Individualität des Schreibers unabhängige charak- 
teristische Umformung einzelner Buchstaben anlangt, die auch für Zeitbestimmungen von Wert 
sind, so sind sie im Alphabet der gotischen Minuskel nicht allzu groß und auffallend. Dazu gehört 
vor allem der Buchstabe a. Nachdem im 11. und 12. Jahrhundert a die älteren Formen völlig über- 
wunden hatte, und der Schaft aus der ursprünglichen schrägen immer mehr in eine senkrechte 
Stellung übergegangen war, beobachtet man schon seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts das Über- 
greifen des Schaftes in Form eines offenen Bogens. Diese Bogenlinie entwickelt sich dann zu einer 
zweiten oberen Schlinge, so daß im 13. Jahrhundert die beiden Formen des ein- und zweibauchigen a 
nebeneinander auftreten. Dabei ist noch jene Variante der zweiten Form zu beachten, bei der die 
beiden Bogenlinien in einen geraden Schaft verwachsen, die Einkerbung also verschwindet, zwischen 
beiden Senkrechten nur eine dünne Diagonale gezogen erscheint.?) Wichtig ist sodann die Aus- 
bildung des ?-Striches und i-Punktes, Auch da beginnt die Entwicklung im 12. Jahrhundert in der 
Weise, daß beim Zusammentreffen von 4i diese durch Striche charakterisiert werden.*) Im folgenden 
Jahrhundert erhält auch einfaches à einen Strich, vornehmlich wenn es zwischen m, n und « zu 
stehen kommt; aber Konsequenz ist nur selten in Handschriften wahrzunehmen, das Vorkommen 
ist bezeichnender als das Fehlen.*) Im 14. Jahrhundert erscheint dann neben 4 mit Strich auch schon 
i mit Punkt, und beide Arten erhalten sich geraume Zeit nebeneinander.) Die allmühliche Ver- 
drängung des r durch das gekrümmte 1 steht, wie bemerkt, in gewissem Zusammenhang mit der Aus- 
bildung der Ligaturen; diese Form selbstindig ohne Anlehnung an einen runden Buchstaben, nach 
a, e, w Uu. a. angewandt, findet sich erst im 15. Jahrhundert. Veränderungen mannigfacher Art 
erfährt auch der Buchstabe s besonders am Schluß des Wertes. Im 13. Jahrhundert zumeist als ge- 
schlungene Linie in verschiedenen Formen, nimmt es im 14. die einem Majuskel- B oder der Ziffer 8 
ahnliche Gestalt an.®) Der Buchstabe #, der seinen Balken immer mehr nach rechts schiebt, wird 
auch in reiner Minuskel des 13. Jahrhunderts dem c ühnlich?); im folgenden Sükulum erscheint oft 
eine charakteristische dünne Bogenlinie am Ende der Zunge (/!) als Zierat.?) 
Schließlich sei noch der Bedeutung gedacht, die in der gotischen Schrift den Majuskelbuch- 
staben zukommt. Ihre Anwendung war ja auch in der früheren Periode nicht selten; Kapitelüber- 
1) Über diese Frage hat eine” gründliche Untersuchung“ von W. MEYER, Die Buchstaben- 
verbindungen der sogenannten gotischen Schrift in den Abh. GG. Ges., Phil.-hist. Klasse, N. F. I, 
Nr. 6 (mit 5 Tafeln) reiche Aufschlüsse geliefert. 
2) Man kann diese Formen verfolgen bei ARNDT-TANGL T. 58, 62, 66, oder bei Scuum T. 13, 
22, 24, 26, 28; vgl. auch MEYER T. V aus einem franz. Psalter Anf. s. XIV. 
3) Vgl. aueh die Eusebius-Rufinushs. in Trier 1191 geschrieben bei SrEFFENS T. 70 (86). 
4) Vgl. etwa AnNpT-Tawar T. 58, Sp. 1, Z. 11 fest'uitat — ohne, Sp. 2 Z. 7 mit Strichen 
auf à vor und nach v; in T. 25 aus dem Ende des 13. Jahrh. sind sie auffallend selten ; 8. auch SCHUM 
T..9, 10, 11, 17, 18 va. 
5) Vgl. ArNDT-TanGL T. 64 vom J. 1359, Scaum T. 41 (1342). 
6) Vgl. ArNDT-TanaL 58, 59, 60, 62; Scuum 21, 38 u. a. 7) Vgl. Scaum T. 19. 
8) Vgl. Scauw T. 30. AnNpT-TaNar T. 64 (v. J. 1359). 
GrundriB der Geschichtswissenschaft I. 2. Aufl. 7 
 
	        
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