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B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
schriften, Satzanfänge, Namen sind häufig durch große Buchstaben hervorgehoben, für die man
sich entweder des Alphabets der Majuskelschriften bediente, oder für die man vergrößerte Minuskel-
buchstaben anwandte. In der gotischen Schrift finden die großen Buchstaben auch nur diese
sekundäre Anwendung. Aber einerseits sind sie hier viel häufiger und regelmäßiger in Gebrauch,!)
anderseits versucht man ihnen eigenartige Formen zu geben. Die Grundlage bildet das Unzial-
alphabet, aber durch noch stärkere Ausbauchungen und Rundungen, durch Anbringung von Doppel-
linien, Abschlußbogen und -strichen, ausgesprochenem Gegensatz zwischen dünnen und starken
Linien erhalten sie ein mehr gekünsteltes Aussehen; auch finden sich für einen und denselben Buch-
staben mehrfache ziemlich verschieden geartete Gestalten.?) Bei Prachthandschriften entwickeln
sie sich zu bunten reich ornamentierten Initialien, wie dies aus zahlreichen Beispielen dieser Jahr-
hunderte geläufig ist.®)
$ 2. Die gotische Kursive.
Die auch in früheren Perioden gemachte Wahrnehmung, daß die Verallgemeine-
rung der Schreibtätigkeit den formstrengen Charakter der Buchschrift in flüssigere,
leicht schreibbare Schrift umwandelt, tritt im Verlaufe des 13. Jahrhunderts wiederum
deutlich zutage. Diese Kursive ist keine neue Schriftart, sondern nur eine natur-
gemäße Fortbildung und Vereinfachung der Schrift für den Alltags- und Geschäfts-
bedarf. Dabei ist wohl auch zu berücksichtigen, daß kursives Schreiben wohl nie
völlig außer Gebrauch kam, wie dies an der Schriftentwicklung Italiens nachweisbar
ist; nur unterlagen die in Kursive geschriebenen Produkte wegen ihres oft nur vorüber-
gehenden Wertes leichter der Vernichtung. In Frankreich und Deutschland fehlen
uns seit der karolingischen Reform mehrere Jahrhunderte hindurch fast alle Anhalts-
punkte für die Existenz einer eigentlichen Kursivschrift; nur in Italien vermittelt die
Schrift der Notariatsinstrumente und anderer Urkunden den Zusammenhang zwischen
älterer und neuerer Zeit. Im 13. Jahrhundert tritt die Kursive aber überall wieder
bedeutsam hervor. Der Aufschwung im geistigen Leben und in der schriftstellerischen
Arbeit, das Aufkommen des leichter beschreibbaren Papieres, die Umständlichkeit
der gotischen Minuskel erklären zur Genüge ihre raschere Ausbreitung.
Der Hauptzweck, der mit der Kursivschrift verfolgt wird, ist rascheres Schreiben.
Das rasche Schreiben hat aber zur Folge eine zumeist auffallende Verkleinerung der
Schriftzüge, Ungenauigkeiten im Größenverhältnis, Ausgestaltung von nebensächlichen
Buchstabenteilen und Vernachlässigung der regelmäßigen Formen, Verbindung der
Buchstaben untereinander, Schon diese verschiedenartigen Momente, die bei der
Kursivschrift in Betracht kommen, deuten an, in wie zahlreichen Abstufungen sie
auftreten kann. Mehr als bei anderen Schriftweisen kommt ferner bei der Kursive in
Betracht, ob wir es mit Konzept- oder Reinschriftkursive zu tun haben. Im letzteren
Falle ist bei aller Freiheit im Zug ein gewisser Grad von Deutlichkeit und Regelmäßig-
keit erforderlich, im ersteren treten zu den Elementen der Kursive noch die der vollsten
Sorglosigkeit.
Die großen Veränderungen, die sich in der gotischen Kursive wahrnehmen lassen,
betreffen vorzüglich die Behandlung der Schäfte. An eine feste Einhaltung der
Brechungen und Umbiegungen der Mittelschäfte ist bei Schnellschrift kleinen Kalibers
nicht mehr zu denken. Aber dem Grundzug der Schrift wird insofern Rechnung ge-
tragen, als die Schäfte unten nicht rund umbiegen, sondern zumeist spitzig gebildet
werden; weiter aber vollzieht sich bei diesen Buchstaben (£, n, m, u) die wichtige
Änderung, daß die Schäfte nicht mehr oben oder unten die Verbindungslinie zeigen,
sondern in diagonaler Richtung, wie in unserer Kurrentschrift (47). Bei den Buch-
staben mit Ober- und Unterlingen sehen wir, als charakteristische Erscheinung der
1) Gleich bei dem ültesten Stück in gotischer Minuskel, das sich bei ARNDT-TANGL findet
(T. 58), wird das zahlreiche Vorkommen von groDen Buchstaben betont.
2) Vgl. ARNDT-TaAxar T. 60, 62, 63 u. a.; ScuvM T. 16, 19, 30 (Initiale) 45 u. a.
3) Vgl. auch das in Note 3 S. 97 zitierte Blatt.
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