Zweiter Hauptabschn.: Entwickelung d. lat. Schrift. Neuntes Kap.: Die got. Periode usw. 101
greift.!) Im Verlaufe des 13. Jahrhunderts sehen wir in der Reichskanzlei das Zurück-
treten der diplomatischen Schrift gegenüber einer zwischen reiner Minuskel und Kursive
liegenden schönen Urkundenminuskel, die insbesondere im 14. Jahrhundert unter
Ludwig dem Bayern und dann in der mit Kalligraphen reich gesegneten Kanzlei Karls IV.
zu besonders schöner und klarer Ausbildung gelangt. Fortan unterliegt auch die Ur-
kundenschrift in der kaiserlichen Kanzlei und in denen der Landesfürsten allen jenen
Wandlungen, die die Schrift im allgemeinen durchzumachen hat: lokale Ausbildung der
Kursive, daneben der auch in der Urkundenschrift sich geltend machende Einfluß
der Renaissanceminuskel.
Wohl nirgends ist, seitdem der Kampf zwischen Kuriale und karolingischer
Minuskel durchgeführt war, mit solcher Gesetzmàfigkeit an Schriftwerken gearbeitet
worden, wie in der päpstlichen Kanzlei. Die ganze Ausstattung der Urkunden, die
Bullierung, die Anwendung von großen und verzierten Buchstaben, die Kürzungen
und Ligaturen, ja auch der Duktus der Schrift war an Kanzleiregeln gebunden, die
schon im 12. Jahrhundert sich ausbildeten, aber im 13. erst voll und streng zur Durch-
führung kommen und bis ins 15. Jahrhundert in Kraft bleiben.?) Durch äußere Unter-
schiede der Ausstattung, die sich mit Beziehung auf die Schrift in verlängerten und
verzierten Buchstaben beim Papstnamen, beziehungsweise in der ganzen ersten Zeile,
in dem verschnórkelten Kürzungszeichen, in der Anwendung von Initialen bei den
einzelnen Absátzen und in der Formung der Ligatur sí und ct, sowie der Ober- und
Unterlängen äußern, werden danach die feierlichen Privilegien, die Urkunden unter
Seiden- und Hanfschnur unterschieden. Der Grundzug der Schrift ist in allen diesen
Arten ein und derselbe: eine Minuskel, die man speziell als Kurialminuskel bezeichnet.?)
Ihre Anwendung ist beschränkt auf die päpstliche Kanzlei; die leisen Veränderungen,
die sie erfährt, sind lediglich bedingt durch den allgemeinen Wandel, der sich im Wesen
der Schrift im Verlaufe der Jahrhunderte vollzieht und durch die individuelle Hand
der Schreiber.
Wie auch sonst in der gotischen Minuskel erfolgt im 15. Jahrhundert eine stetige
Schriftverschlechterung. Noch an einer Urkunde vom Jahre 1407 (ARNDT-TANGL
T. 97) wird die ,prachtvolle Schrift" vom Herausgeber besonders betont, dagegen
bei jener vom Jahre 1472 (T. 103) auf den ,,Niedergang der Schreibkunst in der pápst-
lichen Kanzlei“ aufmerksam gemacht. Ziehen wir zeitlich dazwischenliegende und
spütere Stücke zu Rate,*) so sehen wir nicht nur diese Beobachtung bis zu einem ge-
wissen Grade bestátigt, sondern auch eine andere, dal um die Mitte des 15. Jahrhunderts
die neue Schrift der Renaissance in der päpstlichen Kanzlei Boden faßt, und vorzüglich
bei der erst in diesem Jahrhundert aufgekommenen Urkundenart der Breven An-
wendung findet.?) Daneben bedient man sich in den päpstlichen Registerbüchern
einer regelrechten, aber deutlich geschriebenen Kursive.9)
1) Ein Beispiel bei AgNDpT-Tawar T. 88 (v. J. 1226). Auf das überreiche Material, das die
K U. in Abb. bieten, kann hier nur allgemein aufmerksam gemacht werden; auch die Mon. graph.
bieten (vgl. die Zusammenstellung in Lief. X) eine Auswahl von Kaiserurkunden durch das ganze
Mittelalter hindurch bis auf K. Friedrich III. (1464), ebenso zahlreiche landesfürstliche und Privat-
urkunden. Einen guten Überblick der Entwicklung der Urkundenschrift bieten die von STEFFENS,
ausgewühlten Tafeln.
2) Vgl. hierüber die klaren, die Hauptsachen zusammenfassenden Ausführungen von TANGL
zu Lief. III, T. 89, 90 und 91, oder bei SrEFFENS T. 66 (80) 36 Suppl. (88) u. a.
3) Über den Namen ,jüngere Kuriale", den PrrLvak-HanmrruNG anwandte, vgl. BRESSLAU,
Urkundenlehre I, 913.
4) Vgl. Mon. graph. VI, 16, 17 (v. J. 1418), II, 16 (1452), VI, 19, IX, 19 (1468), IX, 20 (1500).
5) Vgl. AnNpT-TAwaL T. 99, SrgrrENS T. 93 (116).
6) Vgl. ARNDT-TANGL T. 98 (v. J. 1413); die Literatur der Faksimile bei BRESSLAU a. a.
O. S. 97, Anm. 2.