Zweiter Hauptabschnitt: Entwickelung der lateinischen Schrift, Zehntes Kap.: Anhang. 103
zeichen (Initialen, dem Vorkommen von %-Punkten, Abteilungsstrichen, ungewöhnlich
gezierten Buchstaben) müglich ist.!)
Neben der Renaissance-Minuskel erscheint in Italien im 15. Jahrhundert auch
eine Kursivschrift, sowohl fiir Bücher als Gescháftsstücke, für die keine Vorbilder
bestanden, sondern die sich aus der auch in Italien üblichen Kursive unter dem reinigen-
den Einfluß der schönen Minuskel entwickelte. Es ist die Schriftweise, die sich im
15. und 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der humanistischen Literatur über
ganz Mitteleuropa ausbreitete,?) vor allem aber in den Ländern romanischer Zunge
als sogenannte „Lateinschrift“ die gotische Kursive völlig verdrängt hat.
Zehntes Kapitel: Anhang,
8 l. Die Abkürzungen.
in wichtiges Kapitel in der Schriftentwicklung bilden die Kürzungen, die je
nach Zeitperioden und Schriftarten bald bescheidener, bald reicher, bald überreich
auftreten, aber — man kann wohl sagen — in keinem mittelalterlichen lateinischen
Schriftwerk gänzlich fehlen. Um sich der Kürzungen in richtiger Weise bedienen zu
können, hat man schon in römischer Zeit Sammlungen der Abbreviaturen nach be-
stimmten Systemen angelegt, die sog. „Laterculi notarum“ oder „notae iuris“3). Von
Rom aus verbreiteten sich diese Sammlungen zu den Iren und Angelsachsen, nach
Spanien und ins Frankenreich, und eine derartige Arbeit hat noch Magno, der spätere
Erzbischof von Sens, für Karl d. Gr. zusammengestellt. Entsprachen sie auch mit
ihrem den Majuskelschriften und den juristischen Texten angepaBten Formenschatz
nicht mehr ganz der spiteren Zeit, so wurden sie als literarisches Produkt doch hand-
schriftlich weiter verbreitet. Daneben kamen besonders im späteren Mittelalter, als
die Kürzungen in den Handschriften wieder emporwucherten, neue Sammlungen auf,
von denen eine der verbreitetsten der „Modus legendi abbreviaturas in utroque iure“
gewesen sein muB, da sie seit spä'estens 1476 in Deutschland und Frankreich immer
wieder neu aufgelegt wurde. Eine andere kleinere Sammlung ,Regoletta . . . di ab-
breviature usuale", die 1534 in Brescia gedruekt wurde, scheint in Italien Schul-
zwecken gedient zu haben.4)
Mit dem Wiederbeginn der diplomatischen Studien im 17. und 18. Jahrhundert
wandte sich auch die Aufmerksamkeit dem Kürzungswesen zu. Aber erst J. L. WALTHER
unterzog sich der mühsamen Arbeit, aus zahlreichen Handschriften des 8.—16. Jahr-
hunderts die mannigfachen Kürzungen zu faksimilieren, welche Sammlung dann
J. H. Juxa 1752 als „Lexicon diplomaticum“ herausgab. Es bildete Muster und Grund-
lage für eine Anzahl ähnlicher Werke, die seither erschienen sind. Wichtig wurde von
1) Ein Beispiel von Renaissance-Minuskel s. AgNpT-Tawarn T. 30' (Epistulae Augustini);
STEFFENS T.91 (114), 44 Suppl. (115). AuBer den Initialen móchte die Art des Abschlusses der
Oberschüfte, die starke Umbiegung und Verlüngerung der Bogenlinie bei h, die Behandlung des
Balkens bei 7 auffallen. Mehrfache Beispiele klassischer Handschriften in Renaissanceschrift
bieten die Pal. Soc. und CHATELAIN, Paléographie des classiques latins.
2) Zwei vereinzelte Beispiele von Anwendung der Renaissance-Minuskel und Renaissance-
Kursive durch deutsche Schreiber, die aber in Italien geweilt haben, s. Mon. pal. Lief. X, T. 8 (1460
bis 1464), T. 10 (1504).
3) Sie sind als ,, Laterculi notarum antiqui" hrg. von Tg. MowusEN in H. Kzir, Grammatici
latini IV (1855).
4) Vgl. H. OmonT, Dictionnaire d’abréviations latines publié & Brescia en 1534 in BÉ Ch.
LXIII (1902), S. 5 mit zinkographischem Abdruck. Über ein zweites Exemplar vgl. ebenda
LXIV, S. 214. — Eine reiche Bibliographie der Literatur über Abkürzungen, in der auch hand-
schriftliches Material berücksichtigt wird, s. in dem noch zu erwihnenden Buche von CAPPELT".