106 B. Bretholz: Lateinische Paläographie.
ap = apud, vob = vobis, sol = solis) spielten eine wichtigere Rolle noch Kürzungen durch
übergeschriebene Buchstaben, wie: ÿ = erga, ÿ = ergo, ÿ = igitur, m = mihi, danach
libi, sibi, ubi, ibi, nisi, 4 = vero, m = modo, ts = tres. Ferner die Kürzung durch
konventionelle Zeichen: y = per, p = prae und pre, p? das Relativpronomen
q oder Q — qui, q — quae, qi, d oder ¢ = quod, § = quem; das Demonstrativpronomen
K = he, i = haec, hh = hoc, k = huius, h¢ = hunc. Das Kürzungszeichen ist entweder
ein allgemeines, wie der Punkt, der gerade oder gekrümmte Strich — —, der bei Ur-
kunden oft recht verschnórkelte Formen annehmen kann, oder ein besonderes. Während
das allgemeine Abkürzungszeichen nur andeutet, daB an dem Worte, über welches es
gesetzt ist, etwas gekürzt ist, bezeichnet das besondere gleich auch die Buchstaben-
verbindung, die ausgefallen und zu ergänzen ist. Dazu gehören 9 = con (9 = contra),
J = us, o8, Z. B.: -m? — mus, ?’ = nos, P’T — post, p’rer” = posterius; -b? = bus,
das aber auch durch b; ausgedrückt werden kann; 2 = ur, z. B.: lo — loquitur,
le?- — legitur, *3 — er, z. B. qpv? — propler, frat = frater; ; oder 3 — et, z. B. dej
= debet, 1} = licet, Lc oder [3 = scilicet, während L secundum oder ser- (fuul =
servus) bedeutet.
Im allgemeinen 1äßt sich sagen, daß die karolingischen Schreibschulen nur eine
mäßige und leicht verständliche Zahl von Abkürzungsformen in Anwendung bringen.
Und auch die nachkarolingische Zeit vom 9. bis zum 12. Jahrhundert bringt, wie auch
TRAUBE konstatiert, keine oder wenig Neuschöpfungen hervor. Erst mit dem 13. Jahr-
hundert beginnt das Überhandnehmen der Kurzformen und steigert sich besonders
in theologischen und Rechtshandschriften immer mehr, so daB im 15. Jahrhundert
wie durch die Kursivschrift so durch das übermäßig starke Kürzen das Lesen der
Handschriften oft bedeutend erschwert wird. Der Druck, aber auch das Zurückgehen
der Humanistenzeit auf die Muster des 11. und 12. Jahrhunderts haben hierin Wandel
geschaffen.
§ 2. Tironische Noten.
Für die Zwecke des Schnellschreibens im Sinne der modernen Stenographie be--
diente man sich in Rom seit der republikanischen Zeit einer Schriftweise, deren einzelne
Zeichen man im Gegensatz zu littera als nota bezeichnete. Der Namen tironische
Noten, den man hierfür anwendet, hängt damit zusammen, daß man, auf das Zeugnis
Suetons!) gestützt, die Erfindung dieser Noten auf Tullius Tiro, einen Freigelassenen
Ciceros, der zugleich die Dienste eines gelehrten Sekretürs bei ihm versah, zurückzu-
führen Grund hat; doch liegen verschiedene auf die Geschichte der Entstehung dieses
Schriftsystems bezügliche Fragen noch im Dunkeln.?) In der Folgezeit machten sich
Vipsanius Filagrius und Aquila, ein Freigelassener des Maecenas, um die Vermehrung
der Noten verdient, bis ein gewisser Seneca durch Sammlung des Materials ein Werk
von 5000 Noten zusammenstellte. Unter dem Namen ,Notae Tironis et Senecae“ sind
solche Sammlungen in Handschriften seit dem 8. Jahrhundert erhalten.) In Rom war
die Kenntnis dieser Noten gewiß weit verbreitet, denn der Namen ,notarii^ geht in
letzter Linie darauf zurück; sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach in den Schulen
1) Überliefert durch Isidorus Hisp. Etymologiae seu Origines. Den Text nach einer Ambro-
sianischen Hs. saec. VIII reproduzierten SrckrL, Monum. graph. Tab., SrErrENs T. 37 (33).
2) Vgl. L. TaAvsBz, Die Geschichte der tironischen Noten bei Suetonius und Isidorus im
A. f. Stenographie, hrg. von CugT DzwiscuErT, Jahrg. 53 (1901), S. 1911f.; dazu W. WEINBERGER
ebda 54 (1902), 205.
3) Vgl. Tm. Srckzgr, Das Lexicon Tironianum der Góttweiher Stiftsbibliothek in SB. Wien.
Ak. Bd. 38, S. 1ff. Dieses, aus der Zeit um 820, „eher früher als später“ stammend, gilt als das
zweitälteste dermalen bekannte; älter ist der Cod. Casselanus aus dem VIII. saec.
A
tH c 00 Hz OO (C UO al 6,
ho =
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