Zweiter Hauptabschnitt: Entwickelung der lateinischen Schrift, Zehntes Kap.: Anhang. 107
gelehrt und im öffentlichen und Geschäftsleben ebenso angewandt wie unsere Steno-
graphie. Die tironischen Noten waren nicht willkürlich erfundene Zeichen, sondern
aus der Majuskel und. Kursive abgeleitete Formen, die für diesen Zweck mannigfach
verändert, verkürzt und verstümmelt wurden; oder wie SICKEL sagt: „man setzte,
statt die Buchstaben in der komplizierten und schwerfälligen Form der Majuskel zu
zeichnen, an die Stelle jedes einzelnen einen kleinen, jedoch charakteristischen Teil
desselben, den man gleich den Siglen nota nannte".!)
Das tironische Alphabet hat fast für jeden Buchstaben zwei, drei und mehr
verschiedene Zeichen, die einander oft sehr unáühnlich sind, oft aber, wie etwa bei p,
das nüàmliche Zeichen in verschiedener Lage darstellen. Die tironische Notenschrift
basiert auf der Unterscheidung zweier Arten von Zeichen: der Hauptzeichen (signum
principale) und der Hilfs- oder Endungszeichen (signum auxiliare). Bei einer beschränk-
ten Zahl von Worten — gewissen Substantiven und Adjektiven im Nominativ, der
dritten Person Indikativ praes. sing. gebräuchlicher Zeitwôrter, schlieBlich bei manchen
unveränderlichen Adverbien, Prüpositionen und Konjunktionen — reicht das Haupt-
zeichen allein aus; in den weitaus meisten Fállen wird aber das Hauptzeichen durch
das Endungszeichen ergänzt. Neben den wirklichen Zeichen kommen noch Punkte
und Striche in Anwendung, deren Stellung — rechts, links, oben, unten, in der Mitte
des Zeichens, dasselbe durchstreichend usw. — ein ganz anderes Wort oder eine ganz
andere Endung bedeutet. Erschweren diese oft unscheinbaren Verschiedenheiten der
einzelnen Zeichen an sich das System, so kommt hinzu, daß sich ein und dasselbe Wort
auf sehr verschiedenartige Weise schreiben läßt, z. B. mit längerem (-torum, -dibus)
oder mit kürzerem Hilfszeichen (-orum, -bus).
Von Rom aus verbreitete sich die Kenntnis der tironischen Noten einerseits zu
den Iren, anderseits ins Frankenreich. Hier besonders läßt sich ihre Anwendung vom
7. bis ins 10. Jahrhundert verfolgen. — Eine häufig wiederkehrende Erscheinung bilden
sie in den späteren merowingischen und karolingischen Diplomen in bestimmten Teilen
derselben, vornehmlich beim sogenannten Rekognitionszeichen, allerdings zumeist
auf wenige Worte beschränkt.?) Daneben werden in der kaiserlichen Kanzlei tironische
Noten zur Verfassung von Konzepten verwendet.?) In der deutschen Kanzlei früher
als in den westlichen vergessen, verwandelten sie sich mit der allmählichen Abnahme
der Kenntnis ihres Wesens aus einer scriptura literalis in eine scriptura realis, indem
man bloB noch die Bilder nachahmte.*) Lünger fast als in den Diplomen läßt sich ihr
Gebrauch in Privaturkunden wie im Frankenreich so auch in Italien nachweisen.
In literarischen Denkmálern finden sich tironische Noten bald untermischt mit
gewôhnlicher Buchstabenschrift,5) bald für Randbemerkungen angewandt;°) schlieB-
lich sind auch ganze Handschriften in tironischen Noten abgefaßt. Zu den bekanntesten
gehören: das Wolfenbüttler Psalterium,‘) der Pariser Codex lat. 2718, enthaltend eine
Formelsammlung und ein Kapitulare K. Ludwigs d. Fr. nebst einem Traktat des
1) Vgl. Acta Karolinorum S. 326ff.
2) Vgl. SICKEL a. a. O. S. 334ff.; H. BnzssrAv, Urkundenlehre I, 919.
3) Neben dem bekannten Zeugnis aus Gregor von Tours X, 19 vgl. jetzt Taner, Der Ent-
wurf einer unbekannten Urkunde Karls d. Gr. in tironischen Noten in MIÓG. XXI (1900), 334.
4) Vgl. KU. in Abb., insbesondere die Erláuterungen SrckErLs zu Lief. VII, T. 10. — Als
Beispiele in palàographischen Sammlungen verweise ich auf ARNDT-TANGL T. 75, SrEFFENS T. 34
(fehlt in der 2. Aufl.), 50 (59), 53 (64).
5) Vgl. SrErFENS T. 48c (56c) aus einem Mailànder Kodex saec. IX; über das im selben
Kodex enthaltene tachygraphische Fragment Hygins vgl. E. CmaTELAIN, Le ms. d'Hygin en
notes tironiennes in R. des Bibliothéques, Jahrg. 13 (1903), N. 7, 8.
6) S. ARNDT-TANGL T. 15a aus der Berl. Hs. der Lex Romana Wisigothorum saec. IX; Pal.
Soc. II, 12 aus dem St. Galler Vergil, entstanden in St. Martin.
7) O. LEHMANN, Das tironische Psalterium der Wolfenbüttler Bibliothek (Leipzig 1883).